Bodenlose Tiefe
mir nicht gleich den Kiefer brechen würden. Ich will Archer das Gefühl geben, dass ich vollkommen hilflos bin, wenn er mich durch sein Fernglas erblickt.«
»Ich habe keine Lust, Sie zu –«
»Wozu Sie Lust haben, interessiert mich nicht. Sie wissen, dass Sie es tun müssen. Jetzt schlagen Sie endlich zu, verdammt.«
»Dann sehen Sie mich nicht an.«
»Sie sind vielleicht ein Schamane.« Sie wandte sich ab und richtete ihren Blick auf das Schiff.
»Schamanen waren Zauberer, keine Krieger. Allerdings haben sie eine rituelle Handlung ausgeübt, wenn jemand am Marterpfahl verbrannt wurde. Und genauso fühle ich mich jetzt –«
Ein blitzartiger Schmerz durchfuhr ihren Unterkiefer, als er ihr einen rechten Haken verpasste.
Nicholas betrachtete Melis, die in sich zusammengesunken im Boot saß. In dem weißen Kleid sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das gerade einen Mittagsschlaf hielt.
Und er kam sich vor wie der letzte Dreckskerl. Er war versucht, das Boot zu wenden und zur Trina zurückzukehren.
Nein, das ging nicht. Er hatte eine Entscheidung getroffen und in solchen Situationen war es meistens lebensgefährlich, seinen Gefühlen nachzugeben. Außerdem war Melis viel zu weit gegangen, als dass er sie noch hintergehen konnte. Er tätschelte ihre Wange. »Viel Glück.« Er stellte den Timer zum Auslösen der Leuchtrakete auf drei Minuten ein, warf sein wasserdichtes Bündel ins Wasser und sprang hinterher. Mit langen, kräftigen Zügen schwamm er durch die Wellen. Er würde mindestens zwanzig Minuten brauchen, um zu der Insel zu gelangen, wo Kelby auf seinem Posten war und das Schiff beobachtete. Er rechnete nicht mit einem herzlichen Empfang, denn bis dahin würde Melis bereits auf Archers Schiff gebracht worden sein und Kelby würde Bescheid wissen.
Ein schrilles Pfeifen ertönte hinter ihm.
Als er sich umdrehte, sah er die Leuchtrakete am Nachthimmel explodieren.
»Was zum Teufel ist das?« Archer rannte an Deck und starrte zu der Leuchtrakete hinauf. »Destrex, schalten Sie die Suchscheinwerfer ein.« Der Erste Offizier reichte ihm sein Fernglas. Zuerst hatten sie angenommen, sie würden angegriffen, aber Kelby hätte sie bestimmt nicht auf so plumpe Weise auf sich aufmerksam gemacht. Und dass es sich um einen tatsächlichen Notfall handelte, war höchst unwahrscheinlich.
Archer suchte das Meer an der Stelle ab, wo die Leuchtrakete abgefeuert worden war. Nichts. »Wo bleiben die Scheinwerfer, verdammt?«
Die Lichtkegel der Scheinwerfer streiften über das Wasser.
Ein Boot, das mit ausgeschaltetem Motor in den Wellen dümpelte.
»Es ist zu weit weg, um es zu versenken«, sagte Destrex.
»Außerdem scheint es leer zu sein.«
Archer richtete sein Fernglas auf das Boot.
Ein weißes Schimmern … Er stellte sein Fernglas scharf ein.
Ein kleines Mädchen mit goldenen Haaren, ihre zarten Handgelenke gefesselt.
Melis!
Vor Aufregung begann sein Puls zu rasen. Kelby hatte aufgegeben. Daran bestand kein Zweifel. Endlich hatte er sie.
Er wandte sich an Destrex. »Holen Sie sie her. Überprüfen sie das Boot auf versteckte Sprengsätze, aber bringen Sie sie zu mir.«
Er sah zu, wie Destrex und die beiden anderen Männer das Beiboot wasserten und übers Wasser glitten. Dann richtete er sein Fernglas wieder auf Melis. Sie war offenbar bewusstlos.
Hatte Kelby sie unter Drogen gesetzt? Wahrscheinlich, sonst hätte er es nicht geschafft, ihr dieses Kleid anzuziehen.
Freiwillig hätte sie sich das nicht gefallen lassen. Es hätte viel zu viele Erinnerungen ans Kafas wachgerufen.
Aber dass Kelby sie in dieses Kleid gezwungen hatte, war der eindeutige Beweis dafür, dass er auf der ganzen Linie nachgegeben hatte. Er lieferte Melis tatsächlich aus, und zwar in der Geschenkverpackung, die er, Archer, ausgesucht hatte.
Offenbar empfand Kelby nicht die Spur von Zuneigung für sie.
Destrex hatte das Boot erreicht und angefangen, es zu überprüfen. Er hob Melis aus dem Boot und einer seiner Männer nahm sie entgegen. Mit Vollgas fuhren sie zum Schiff zurück.
Das Herz schlug Archer bis zum Hals, als das Boot sich näherte. Er war sich nicht sicher, ob es Hass, Geilheit oder freudige Erwartung war, was sein Blut zum Kochen brachte, aber das spielte auch keine Rolle.
Sie kam zu ihm.
Kelby umklammerte das Fernglas so fest, dass seine Knöchel sich weiß abzeichneten, als er beobachtete, wie Melis auf Archers Schiff gebracht wurde. Im Boot war sie anscheinend noch bewusstlos gewesen, aber jetzt bewegte sie
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