Bodenlose Tiefe
reicht nicht, dass es Ihnen egal ist. Möchten Sie es mir erzählen?«
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich das Bedürfnis hatte, mit jemandem darüber zu sprechen.
Das Gespräch mit Kemal hatte zu viele Erinnerungen wachgerufen, die sie erdrückten, und es gab keine Carolyn mehr, die sie davon befreien konnte. »Ja, ich … glaube schon.«
Er wandte sich ab. »Also gut, dann erzählen Sie mir von dem Kafas. «
»Es bedeutet goldener Käfig. Es war eine Art spezieller Nachtclub in Istanbul.« Sie stand auf und trat an den Rand der Veranda. »Und daran angeschlossen war ein ganz besonderer Raum: der Harem. Samtene Sofas. Vergoldete Schnitzereien an den Wänden. Der Raum war äußerst luxuriös ausgestattet, denn die Kunden waren entweder sehr wichtige oder sehr reiche Männer. Es war ein Bordell, in dem jede sexuelle Geschmacksrichtung bedient wurde. Ich war dort sechzehn Monate lang gefangen.«
»Wie bitte?«
»Es kam mir vor wie sechzehn Jahre. Kinder leben so sehr in der Gegenwart, sie können sich nicht vorstellen, dass das Leben sich jemals ändert. Und wenn sie in der Hölle leben, dann glauben sie, es ist für immer.«
»Kinder?«, wiederholte Kelby langsam.
»Ich war zehn Jahre alt, als ich an den Harem verkauft wurde.
Als ich wegging, war ich elf.«
»Mein Gott. Verkauft? Wie das?«
»Der übliche weiße Sklavenhandel. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als ich zwei war. Da ich keine Verwandten hatte, wurde ich in einem Kinderheim in London untergebracht. Das Heim war gar nicht so schlecht, aber leider brauchte der Heimleiter Geld, um seine Spielschulden zu bezahlen. Also hat er einfach hin und wieder ein Kind als Ausreißer gemeldet. Und diese Kinder landeten dann in Istanbul.« Nicht nachdenken. Die Worte einfach aussprechen.
Alles hinter sich bringen. »Natürlich musste er ganz bestimmte Typen von Kindern liefern, um das Geld zu bekommen, das er verlangte. Ich war perfekt. Blond, mit zarter Kinderhaut. Und ich hatte etwas, das diese Leute besonders schätzten. Ich wirkte
… so zerbrechlich. Das war wichtig. Pädophile bevorzugen zarte, zerbrechliche Kinder. Es verstärkt das Gefühl der Macht.
Der Besitzer des Bordells meinte sogar, ich wäre auch für normale Kunden brauchbar, wenn ich erst ein paar Jahre älter wäre. Mit mir hatte er einen richtig guten Fang gemacht.«
»Wie hieß der Besitzer?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Doch, das spielt eine Rolle. Ich werde die Welt von dem Dreckskerl befreien. Wie heißt er?«
»Irmak. Aber er ist tot. Er wurde ermordet, bevor Kemal mich und die anderen Kinder aus dem Harem befreit hat.«
»Gut. Ist das der Kemal, der eben angerufen hat?«
»Kemal Nemid.« Die Worte kamen ihr jetzt leichter über die Lippen. Kemal stellte auch einen Teil ihrer guten Zeiten dar, nicht nur des Alptraums. »Das ist der Mann, der mich aus der Türkei nach Chile gebracht hat. Er stand mir näher als ein Bruder. Ich habe fast fünf Jahre bei ihm gewohnt.«
»Ich dachte, Sie hätten bei Luis Delgado gewohnt.«
»Woher wissen Sie, dass ich –« Ihre Mundwinkel zuckten.
»Klar, Sie haben sich natürlich informiert, um zu wissen, wo Sie mich packen können. Erzähle ich Ihnen eigentlich irgendwas, das Sie noch nicht wissen?«
»Das mit diesem Kafas hat Wilson nicht rausgefunden«, erwiderte Kelby grimmig. »Nur, dass Sie in Chile bei Luis Delgado gewohnt haben.«
»Delgado war Kemal. Seine Vergangenheit war nicht unbedingt lupenrein, deswegen hat er es vorgezogen, uns neue Identitäten zu verschaffen. Er hat mich Melisande genannt –«
»Und dann hat er Sie fallen lassen und Lontana übergeben?
Toller Typ!«
Sie fuhr zu ihm herum. »Er ist tatsächlich ein toller Typ«, sagte sie wütend. »Sie haben ja keine Ahnung. Er hätte mich nie im Stich gelassen. Ich bin von ihm weggelaufen. Er wollte in die Vereinigten Staaten gehen und er wollte mich mitnehmen. Er wollte ein neues Leben beginnen.«
»Und warum sind Sie dann weggelaufen?«
»Ich wäre ihm nur im Weg gewesen. Ich war ihm fünf Jahre lang ein Klotz am Bein. Er hatte alles für mich getan. Nachdem er mich aus dem Kafas rausgeholt hatte, stand ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Er hat mich zu einem Arzt gebracht, in die Schule geschickt und war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte. Es war an der Zeit, ihn loszulassen.«
»Sie waren erst sechzehn, verdammt. Ich hätte Sie nicht mit Lontana ziehen lassen.«
»Sie verstehen das nicht. Mein Alter spielte keine
Weitere Kostenlose Bücher