Body Farm
Kirche und auf dem Sportplatz sehen, sie fernhalten von Drogen, Unmoral und der Gewalt im Fernsehen.
»In Wirklichkeit aber gibt es einen solchen Ort nicht mehr, Dr. Scarpetta«, sagte er. »Nicht einmal hier. Letzte Woche hatte ich mit dem Fall eines elfjährigen Mädchens zu tun, das sexuell mißbraucht und ermordet worden war. Und jetzt mit einem SBI-Agenten in Frauenkleidern. Letzten Monat hatte ich ein Kind aus Oteen mit einer Überdosis Kokain. Sie war erst siebzehn. Und dann die betrunkenen Autofahrer. Die landen ständig bei mir, und dazu die Leute, die sie zusammengefahren haben.«
»Dr. Jenrette?«
»Nennen Sie mich doch Jim«, sagte er. Mit deprimiertem Gesichtsausdruck griff er nach ein paar Papieren auf einer Arbeitsplatte.
»Wie alt sind Ihre Kinder?« fragte ich.
»Na ja, meine Frau und ich versuchen's noch.« Er räusperte sich und sah zur Seite, doch den schmerzlichen Ausdruck in seinem Gesicht hatte ich noch erkennen können. »Und Sie? Haben Sie Kinder?«
»Ich bin geschieden und habe eine Nichte, die für mich wie eine Tochter ist«, sagte ich. »Sie studiert im letzten Semester an der University of Virginia und absolviert gerade ein Praktikum in Quantico.«
»Sie müssen sehr stolz auf sie sein.«
»Das bin ich auch«, antwortete ich, doch meine Stimmung verdüsterte sich, als ich an jene Bilder dachte, jene Stimmen und an meine heimliche Angst um Lucy.
»Jetzt wollen Sie sicher noch etwas über Emily Steiner erfahren. Ihr Gehirn habe ich noch hier, falls Sie es sehen wollen.«
»Ja, auf jeden Fall.«
Es ist nicht ungewöhnlich für einen Pathologen, ein Gehirn in einer zehnprozentigen Formaldehydlösung, Formalin genannt, aufzubewahren. Der chemische Prozeß konserviert und festigt das Gewebe. Man kann es auch später noch untersuchen, vor allem bei Traumata an diesem ganz besonderen und am wenigsten erforschten menschlichen Organ.
Diese Prozedur lief so sachlich-kühl ab, daß sie, wenn man es so sehen wollte, fast etwas Entwürdigendes hatte. Jenrette ging zu einem Waschbecken und holte von einer Ablage darunter einen Plastikbehälter mit einem Etikett, auf dem Emilys Name und ihre Fallnummer standen. Kaum hatte Jenrette ihr Gehirn aus dem Formalinbad geholt und auf ein Seziertischchen gelegt, war mir klar, daß schon eine oberflächliche Untersuchung deutlich machen würde, daß an diesem Fall irgend etwas äußerst faul war. »Es ist absolut keine vitale Reaktion zu erkennen«, wunderte ich mich. Die Formalindämpfe brannten mir in den Augen.
Jenrette führte eine Sonde in den Schußkanal ein. »Keine Blutung, keine Schwellung. Die Kugel geht nicht einmal durch die Hirnbrücke. Sie ist nicht durch die basalen Stammknoten oder andere lebenswichtige Areale gedrungen.«
Ich sah zu ihm auf. »Das hier ist keine sofort tödliche Wunde.«
»Unbestritten.«
»Wir müssen nach einer anderen Todesursache suchen.«
»Ich wünschte, Sie könnten mir sagen, nach welcher, Dr. Scarpetta. Ich habe noch toxikologische Untersuchungen laufen. Doch wenn die keine signifikanten Ergebnisse bringen, kann ich mir keine andere Todesursache mehr vorstellen. Nichts, außer dem Kopfschuß.«
»Ich würde mir gern ein Stück von ihrem Lungengewebe ansehen«, sagte ich.
»Kommen Sie mit in mein Büro.«
Ich überlegte, ob das Mädchen vielleicht ertränkt worden war. Doch als ich einige Augenblicke später über Jenrettes Mikroskop gebeugt saß und mir einen Schnitt ihres Lungengewebes ansah, blieben alle Fragen offen.
»Wäre sie ertrunken«, erklärte ich ihm, »müßten die Lungenbläschen überdehnt sein. In der Lichtung der Lungenbläschen müßte Ödemflüssigkeit sein mit einer unverhältnismäßigen autolytischen Veränderung des Atmungsepithels.« Ich stellte das Mikroskop nach. »Mit anderen Worten, wäre ihre Lunge mit frischem Wasser in Berührung gekommen, wäre der Verwesungsprozeß hier weiter fortgeschritten als bei anderem Gewebe. Aber das ist nicht der Fall.«
»Und was ist mit Erstickung oder Strangulation?« fragte er.
»Das Zungenbein war intakt. Und punktförmige Blutungen lagen auch nicht vor.«
»Das stimmt.«
»Noch wichtiger ist folgendes«, fuhr ich fort. »Bei einem Versuch der Strangulierung oder des Erstickens wehrt sich das Opfer wie wild. Aber die Nase des Mädchens und die Lippen zeigen keine Verletzungen, und auch sonst gibt es keine Spuren eines Kampfes.«
Er reichte mir die dicke Akte des Falls. »Da finden Sie alles«, sagte er.
Er diktierte seinen
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