Böse Liebe - Ein Alex-Delaware-Roman 8
war nichts Auffälliges an ihm. Er war wie Dutzende anderer, die hier ein und aus gehen.«
Sie holte eine dünne Mappe aus ihrem Schreibtisch.
»Hier ist seine Akte. Die Polizei hatte sie zeitweilig beschlagnahmt, sie ist also nicht mehr vertraulich.«
Es waren nur zwei Blätter. Das erste war ein Aufnahmebogen, in dem Hewitts Alter mit einunddreißig angegeben war; kein fester Wohnsitz. Als Grund für die Überweisung hatte jemand »multiple Sozialprobleme« eingetragen, unter Diagnose: »Vermutlich chronisch schizophren.« Unter den anderen Punkten - Prognose, Krankengeschichte, sonstige gegenwärtige Behandlung - stand nichts. Kein Hinweis auf »böse Liebe«. Unten am Rand des Formulars war die Ausstellung von Lebensmittelmarken vermerkt, unterschrieben mit »R. Basille, Sozialhelferin«. Das andere Blatt war leer, bis auf die Bemerkung: »Folgt, wenn benötigt, R. B.«, datiert acht Wochen vor dem Mord. Ich gab ihr die Mappe zurück.
»Sehr dünn«, sagte ich.
Sie lächelte traurig. »Formulare waren nicht gerade Rebeccas Stärke.«
»Sie wissen demnach nicht, wie oft sie ihn gesehen hat?«
»Nein. Das mag kein sehr gutes Licht auf meine Verwaltung werfen, aber so ist es nun mal. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die ihren Untergebenen ständig auf die Finger schauen und über alle Einzelheiten informiert sein wollen. Ich versuche, die besten Leute zu bekommen, die ich finden kann, motiviere sie und lasse ihnen Bewegungsfreiheit. Im Allgemeinen funktioniert das, und bei Rebecca... Sie war wirklich wunderbar, ein sehr liebes Mädchen. Mit Anweisungen und Regelungen hatte sie es nicht so, doch das heißt nicht, dass sie unfähig war. Ich redete mit ihr über ihre Berichtführung, und sie versprach mir, sich zu bessern, doch, wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht viel Hoffnung. Es hat mich auch nicht gestört, solange sie gute Arbeit leistete, wo es zählte: am Telefon mit den diversen Ämtern, im Kampf um jeden Penny für ihre Patienten. Sie arbeitete bis in die Abende und versuchte alles, um ihnen zu helfen. Wer weiß, vielleicht hat sie sich bei Hewitt besonders angestrengt.
Das Schlimme ist, dass es jederzeit wieder passieren könnte. Jeder von unseren Patienten hier könnte wie Hewitt sein. Und einfach wegsperren können wir sie nicht. Wir sind völlig überfordert und können unsere Betreuungsaufgaben gar nicht mehr wahrnehmen, geschweige denn Therapie anbieten. Die staatlichen Anstalten, soweit sie noch nicht zugemacht worden sind, sind voll bis unters Dach. Und immer häufiger landen psychisch Kranke auf der Straße, verwahrlosen, werden obdachlos.«
»Versuchen Sie, die Gewalttätigen unter Ihren Patienten zu identifizieren?«
»Wenn jemand herumläuft und Leute bedroht, dann alarmieren wir den Sicherheitsdienst, doch die meisten sind ruhig. Hewitt hat nie etwas gesagt. Er hat kaum mit jemandem gesprochen, soweit mir bekannt ist. Das heißt, wir werden Detective Sturgis wahrscheinlich nicht weiterhelfen können. Außerdem weiß ich gar nicht, was er eigentlich wissen will.«
»Er vermutet, dass Hewitt einen Freund hatte, der für verschiedene Nötigungsfälle verantwortlich sein könnte. Er versucht herauszufinden, ob dieser Freund ebenfalls hier Patient war.«
»Nach Sturgis’ Anruf habe ich unter meinen Mitarbeitern herumgefragt, ob sie Hewitt mit jemandem zusammen gesehen hatten, aber alle sagten nein. Rebecca wäre wahrscheinlich die Einzige, die uns mehr sagen könnte.«
»Sonst hat niemand mit ihm gearbeitet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wie lange war sie hier beschäftigt?«
»Etwas über ein Jahr. Sie kam direkt von der Fachschule - zweiter Bildungsweg. Davor hatte sie als Sekretärin gearbeitet. Dann beschloss sie, nochmal die Schulbank zu drücken, um etwas Nützliches zu lernen. - Das waren ihre eigenen Worte. Sie war so ein nettes Mädchen...« Sie stockte. »Da fällt mir etwas ein: Hewitt hatte einen Anwalt, der ihn in dieser Diebstahlssache verteidigte. Vielleicht weiß der, ob Hewitt Freunde hatte. Ich glaube, ich habe seinen Namen irgendwo... Warten Sie.«
Sie ging zu einem Aktenschrank und begann zu suchen. »Er rief mich an, kurz nach dem Mord. Er fragte, ob er etwas für uns tun könnte. Ich hatte den Eindruck, er wollte nur plaudern und seine Schuldgefühle loswerden. Ich hatte keine Zeit, mich... Ah, da.«
Sie zog einen Pappdeckel heraus, an den ein Stapel Visitenkarten geheftet war, und öffnete die Heftklammer mit ihrem Fingernagel. Dann gab sie mir eine der
Weitere Kostenlose Bücher