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Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)

Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Schockwellen des Begreifens vertrieben den tröstlichen Nebel in ihrem Kopf. Ganz plötzlich, als sei ein Vorhang zur Seite gezogen worden, traf sie die Erinnerung ohne jede Vorwarnung. Sie keuchte auf vor Entsetzen und spürte, wie sich ihr Körper verkrampfte.
    Die Polizisten, die keine waren. Das Gewitter. Sie lag eingesperrt im Kofferraum. Sie erinnerte sich an ihre Angst, ihre panischen Versuche, sich zu befreien. Die Garage ihres Hauses, in der sie sich immer sicher gefühlt hatte. Sie hörte das Knacken, als ihre Knochen brachen, schmeckte den kupfrigen Geschmack von Blut in ihrem Mund. Diese bestialischen Schmerzen, die Todesangst, die plötzliche Gewissheit, sterben zu müssen. Sie hörte angestrengtes Keuchen und Lachen, sah das blinkende rote Licht einer Kamera durch einen Tränenschleier, roch scharfen Männerschweiß. Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen, du Schlampe! Wenn du das tust, bist du tot. Wir finden dich überall, dich und deine Tochter auch. Deine Fans werden sich freuen, wenn sie im Internet das Filmchen von heute sehen können.
    Das Grauen jener Nacht kehrte mit einer Wucht zurück, die ihr den Atem raubte. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, aber die Erinnerungen, die irgendwo in den Tiefen ihres Gedächtnisses geschlummert hatten, brachen mit der Gewalt eines Vulkanausbruchs hervor und rissen sie in einen rabenschwarzen Abgrund des Entsetzens.
    »Was haben Sie denn? Ist Ihnen nicht gut?« Erst jetzt merkte Nachtschwester Lena, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
    »Ruhig, ganz ruhig!« Sie beugte sich über Hanna, legte die Hände auf ihre Schultern und drückte sie zurück aufs Bett. »Einatmen und das Ausatmen nicht vergessen.«
    Hanna drehte den Kopf weg, wollte sich wehren, aber sie war zu kraftlos. Sie hörte ein schrilles, angsterfülltes Heulen und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass dieser entsetzliche Ton aus ihrem Mund drang.
    *
    Louisa war um halb neun eingeschlafen. Sie hatte nicht mehr nach Florian gefragt, und Emma bemühte sich, ihrer Tochter nicht übelzunehmen, was sie gesagt hatte. Ihr Verstand sagte ihr, dass es für ein fünfjähriges Kind normal war, nach seinem Papa zu verlangen. Wahrscheinlich hätte Louisa zu ihr gewollt, wäre sie bei Florian gewesen. Tief in ihrem Herzen jedoch war sie gekränkt und verletzt über diese deutliche Zurückweisung. Sie ist ein kleines Kind, redete Emma sich ein, sie ist verwirrt und verängstigt durch den Aufenthalt im Krankenhaus. Sie assoziiert ihren Vater mit Lachen, Eisessen, Spielen, Schmusen, dich hingegen mit Strenge, Pflichten und Alltag.
    Doch egal, wie vernünftig sich Louisas Verhalten auch erklären ließ, es war einfach unfair, wie Florian sich bei seinen sporadischen Besuchen die Liebe seiner Tochter erkauft und erspielt hatte! Sie war es doch, die immer für das Kind da war, seit seiner Geburt! Sie hatte Louisa das Bäuchlein massiert, als sie ihre ersten drei Lebensmonate fast ununterbrochen geschrien hatte, sie hatte ihr Salbe aufs Zahnfleisch gerieben, als die ersten Zähnchen gekommen waren. Sie hatte sie getröstet und gepflegt, gewickelt und mit sich herumgetragen. Abend für Abend hatte sie ihre Tochter in den Schlaf gewiegt oder gesungen, sie hatte ihr Geschichten vorgelesen, ihr das Fläschchen gegeben und stundenlang mit ihr gespielt. Und das war nun der Dank!
    Emma legte ihre Hände um die Tasse mit fadem Jasmintee. Der Tee kam ihr allmählich aus den Ohren heraus. Das Verlangen nach einem starken rabenschwarzen Kaffee, einem herrlich bittersüßen Espresso oder einem Glas Wein suchte sie mittlerweile schon in ihren Träumen heim, wenn sie denn mal schlafen konnte. Sie war so erschöpft, so unglaublich müde. Wie gerne hätte sie einfach wieder einmal zehn Stunden am Stück geschlafen, ohne die beständige Sorge um das Wohlergehen ihres Kindes! Aber in spätestens zwei Wochen würde ein zweites Kind ihre volle Aufmerksamkeit fordern, dabei war sie am Ende ihrer physischen und seelischen Kraft. Die Natur hatte es nicht umsonst so eingerichtet, dass der Körper einer Frau Anfang zwanzig am empfänglichsten war. Je älter man wurde, desto dünner wurden die Nerven. Sie war einfach zu alt für zwei kleine Kinder, die sie auch noch ohne Unterstützung eines Mannes großziehen sollte.
    Übermorgen würde sie ihm gegenüberstehen. Florian würde ganz sicher auf dem Geburtstagsempfang für seinen Vater erscheinen. Emma verdrängte den Gedanken an diese Konfrontation. Sie hatte den

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