Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
bereits die ersten Zeilen gelesen, und sie las wie unter Zwang weiter.
Der ehemalige Unternehmer und Gründer des Mütter- und Kinderhilfswerks Sonnenkinder e. V. , Dr. Josef Finkbeiner, wird heute achtzig Jahre alt. In einer Feierstunde wird der Jubilar, der für sein großzügiges karitatives Engagement bereits u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und dem Ehrenbrief des Landes Hessen ausgezeichnet wurde, von seiner Familie und zahlreichen Gästen im Garten seiner Villa geehrt. Ein weiterer Anlass zum Feiern ist das vierzigjährige Bestehen der Sonnenkinder e. V. …
Die Schrift verschwamm vor ihren Augen, ihre Finger krampften sich um den Henkel der Kaffeetasse. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Josef Finkbeiner! Etwas in ihrem Kopf, etwas, das sie und Leonie mühsam zusammengefügt hatten, zerbarst in tausend Stücke. Auf einmal war sie wieder sechs Jahre alt. Sie saß an einem großen, ovalen Tisch, vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch und sie wünschte sich, sie könnte lesen, was darin stand. Die Bilder sah sie so genau vor sich, als habe sie das Buch erst gestern in Händen gehalten, dabei war es vierzig Jahre her. Michaela Prinzler starrte auf das Foto des weißhaarigen Mannes, der freundlich und gütig in die Kamera lächelte. Ach, wie sehr hatte sie ihn geliebt! Er war die strahlende Sonne ihres kindlichen Universums gewesen. Die glücklichsten Erinnerungen an ihre Kindheit, von denen es nicht allzu viele gab, waren untrennbar mit ihm verbunden. Viele Jahre lang hatte sie nicht begriffen, was mit ihr los war, wieso ihr in ihrem Leben häufig Stunden, ja, manchmal sogar ganze Tage und Wochen fehlten, in ihrer Erinnerung einfach nicht mehr da waren. Leonie hatte herausgefunden, dass sie nicht alleine in ihrem Körper war. Es gab nicht nur Michaela. Da gab es auch noch andere, die alle eigene Namen besaßen, eigene Erinnerungen, Gefühle, Vorlieben und Abneigungen. Michaela hatte das lange nicht akzeptieren wollen, es klang total irrsinnig, und doch war es die Erklärung für diese seltsamen und beängstigenden Blackouts. Seitdem sie ein kleines Mädchen war, hatte sie ihre Zeit mit Tanja, Sandra, Stella, Dorothee, Carina, Nina, Babsi und unendlich vielen anderen Identitäten teilen müssen.
»Hör auf damit, Michaela«, sagte sie laut zu sich selbst. Es war gefährlich, in Erinnerungen zu versinken, denn unversehens konnte ihr Geist in den einer anderen Identität schlüpfen, und dann verlor sie wieder Zeit. Energisch blätterte sie in der Zeitung weiter, und schon auf der nächsten Seite verfing sich ihr Blick in einem weiteren bekannten Gesicht.
»Kilian!«, murmelte sie erstaunt. Warum war der denn in der Bild -Zeitung abgebildet? Rasch überflog sie den kurzen Text unter dem Foto. Sie schauderte. Nein! Das stimmte nicht. Das durfte nicht wahr sein! Bernd hatte doch gesagt, Leonie sei im Urlaub. Darüber hatte sie sich zwar gewundert, denn gerade jetzt, in dieser Phase ihres Plans, war die Zeit zum Verreisen ungünstig, aber Leonie hatte so viel für sie getan, sie hatte ihr den Urlaub von Herzen gegönnt. In der Zeitung stand allerdings, sie sei tot. Und Kilian wurde im Zusammenhang mit ihrem Tod und dem Überfall auf die Fernsehmoderatorin Johanna H. gesucht.
Michaela war wie betäubt, ihre Hände zitterten so stark, dass sie die Kaffeetasse nicht halten konnte. Lomax spürte ihre Anspannung, er sprang auf und versuchte, ihre Hand zu lecken.
Was war Realität, was bildete sie sich ein? War wieder Zeit verschluckt worden, ohne dass sie es bemerkt hatte? Vielleicht waren die Kinder gar nicht auf Ferienfreizeit, sondern längst erwachsen, verheiratet und ausgezogen! Und Bernd? Wo war er? Was war für ein Tag? Wie alt war sie? Michaela faltete die Zeitung zusammen, steckte sie in die Tasche ihrer Weste und stand auf. Ihr war schwindelig. Wo war denn bloß das Märchenbuch, in dem sie gerade noch geblättert hatte? Die Mutter würde schimpfen, wenn sie es irgendwo liegenließ, denn sie hing an dem Buch, das sie schon selbst als Kind besessen hatte. Mist! Eben hatte es doch noch dagelegen! Oder doch nicht? Sie blickte sich um. Wo war sie hier überhaupt? Wer waren diese Männer?
Michaela griff sich an den Kopf. Nein, nein, nein, das durfte nicht wieder losgehen, sie musste es stoppen. Sie musste Leonie anrufen, sie durfte den Halt im Michaela-Leben nicht verlieren. Sonst würde es eine Katastrophe geben.
*
Pia hetzte die Treppe hoch, sie nahm immer zwei Stufen auf einmal. Die halbe Nacht
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