Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
leer war, abgesehen von den Fotos der Leiche und des Fundortes.
»Todesursache war Ertrinken«, fuhr Pia fort. »Allerdings wurde sie durch stumpfe Gewalteinwirkung, wahrscheinlich Tritte und Schläge gegen Bauch und Brust, so schwer verletzt, dass sie auch so keine Überlebenschance gehabt hätte. Bei der Obduktion wurden Leber-, Milz- und Harnblasenrupturen festgestellt, die massive Einblutungen in die Bauchhöhle zur Folge gehabt hatten. Wäre sie nicht ertrunken, so wäre sie wenig später innerlich verblutet.«
Es war totenstill, bis auf das gedämpfte Klingeln der Telefone im benachbarten Wachraum. Die vierundzwanzig Männer und fünf Frauen, die vor Pia saßen und standen, rührten sich nicht. Kein Hüsteln, kein Räuspern, kein Stühlerücken. In den Gesichtern der Runde las Pia das, was sie selbst empfand: Betroffenheit, Fassungslosigkeit und Abscheu. Es war oft schon nicht leicht, mit den schrecklichen Folgen von Affekthandlungen umzugehen, aber das, was dieses Mädchen womöglich über Jahre erlitten hatte, sprengte jede Vorstellungskraft. Die meisten ihrer Kollegen waren Familienväter, für sie war es schwer – wenn nicht gar unmöglich –, in einem Fall wie diesem schützende innerliche Distanz wahren zu können.
»Das größte Rätsel bisher ist aber die Tatsache, dass das Mädchen nicht im Main ertrunken ist, sondern in Chlorwasser«, schloss Pia ihren Bericht. »Auf eine genaue Analyse warten wir noch. Hat jemand irgendwelche Fragen?«
Kopfschütteln. Keine Fragen. Sie setzte sich wieder auf ihren Platz und überließ Kai Ostermann die weitere Berichterstattung.
»Die Bekleidung des Mädchens war billige Kaufhausware, die es millionenfach gibt«, sagte Kai. »Unmöglich zu rekonstruieren, wo, wann und von wem sie gekauft wurde. Einen Zahnstatus gibt es nicht, weil sie nie beim Zahnarzt gewesen ist. Bis auf diese mysteriösen Stofffetzen lässt auch der Mageninhalt leider keine Rückschlüsse zu, die uns irgendwie weiterhelfen könnten. Wir stehen mit ziemlich leeren Händen da.«
»Und die Presse macht Druck«, ergänzte Pia. »Sie ziehen Vergleiche zu dem Fall von vor neun Jahren. Ihr wisst, wovon ich spreche.«
Allgemeines Kopfnicken war die Antwort. Vor neun Jahren war ein totes Mädchen vermutlich vorderasiatischer Herkunft an der Wörthspitze im Main gefunden worden, eingewickelt in einen Bettbezug mit Leopardenmuster und beschwert mit dem Fuß eines Sonnenschirmständers. Die Soko »Leopard« hatte immense Anstrengungen unternommen, um die Identität des Mädchens zu klären, Ermittler waren bis nach Afghanistan, Pakistan und Nordindien gereist, hatten überall Fahndungsplakate ausgehängt. Doch obwohl eine hohe Belohnung ausgelobt worden war, hatte es nur knapp zweihundert Hinweise gegeben, und keiner hatte zu einem Ermittlungserfolg geführt.
»Wie wollen Sie weitermachen?«, erkundigte sich Dr. Nicola Engel.
»Ich möchte eine Isotopenanalyse durchführen lassen, damit wir wissen, woher das Mädchen stammt und wo es sich in den letzten Jahren aufgehalten hat. Das könnte uns ein erhebliches Stück weiterbringen«, sagte Bodenstein und räusperte sich. »Außerdem brauchen wir eine Fließwasseranalyse des Mains, um herauszufinden, wo die Leiche ins Wasser gelangt ist.«
»Das habe ich schon veranlasst«, meldete sich Christian Kröger zu Wort. »Ich habe es dringend gemacht.«
»Gut.« Bodenstein nickte. »Wir machen erst einmal genauso weiter, halten engen Kontakt zu Presse und Öffentlichkeit. Ich habe noch immer die Hoffnung, dass sich jemand an irgendetwas erinnert und sich bei uns meldet.«
»Okay.« Die Kriminalrätin war einverstanden. »Was ist mit dem Jugendlichen, der neben der Leiche gefunden wurde?«
»Ich konnte gestern mit ihm sprechen«, sagte Pia. »Er kann sich leider an nichts erinnern. Ein klassischer Filmriss. Bei 3,3 Promille Blutalkoholgehalt nicht verwunderlich.«
»Und die anderen Jugendlichen?«
»Wollen das tote Mädchen gar nicht gesehen haben.« Pia schnaubte. »Zwei von ihnen waren nicht besonders alkoholisiert, und ich bin sicher, sie lügen. Allerdings glaube ich nicht, dass sie irgendetwas gesehen haben, was für uns hilfreich sein könnte. Es war wirklich nur ein zufälliges Zusammentreffen.«
Ihr Handy summte.
»Entschuldigung«, sagte sie in die Runde, nahm das Gespräch entgegen und verließ den Raum. »Hallo, Henning. Was gibt’s?«
»Du erinnerst dich an die Stoffreste aus dem Magen des Mädchens?«, erwiderte ihr Exmann, wie üblich
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