Böses Herz: Thriller (German Edition)
nicht, was sie erwartet hatte, aber das auf keinen Fall. Er entsprach nicht ihrem Bild eines Mannes aus den Bergen. Natürlich war es auch möglich, dass er sie anlog und eine völlig abwegige Vergangenheit erfand, um seine Tarnung nicht zu gefährden. Aber sie fragte einfach weiter. »Was hat Ihr Vater gemacht?«
»Getrunken. Meistens. Wenn er mal arbeitete, dann als Mechaniker bei einem Autohändler. Im Winter fuhr er den Schneepflug.«
»Er ist gestorben?«
»Schon vor Jahren.«
Sie sah ihn neugierig an. Er ließ ihre unausgesprochene Frage so lange unbeantwortet, dass sie insgeheim schon aufgab.
Schließlich führte er aus: »Er hatte dieses alte Pferd, das er in einem Pferch hinter unserem Haus hielt. Ich hatte ihm einen Namen gegeben, aber ich habe nie gehört, dass er es damit angesprochen hätte. Er hat es kaum je geritten. Hat es kaum je gefüttert . Aber eines Tages sattelte er es und ritt los. Das Pferd kam irgendwann wieder. Ohne ihn. Seine Leiche hat man nie gefunden. Aber ehrlich gesagt, hat man auch nicht allzu gründlich danach gesucht.«
Honor fragte sich, ob die Bitterkeit in seiner Stimme auf seinen alkoholkranken Vater zielte oder auf die Suchtrupps, die sich so wenig Mühe gegeben hatten, den Leichnam zu finden.
»Dad hatte das Pferd so zuschanden geritten, dass ich es erschießen musste.« Er löste die verschränkten Arme, ließ sie sinken und starrte in den Regen. »Es war kein großer Verlust. Als Pferd machte es nicht so viel her.«
Honor ließ eine volle Minute verstreichen, bevor sie sich nach seiner Mutter erkundigte.
»Sie war Frankokanadierin. Ein sehr stürmischer Charakter. Wenn sie tobte, begann sie auf Französisch zu schimpfen, das sie mir nie beigebracht hatte, sodass ich oft gar nicht kapierte, warum sie mich so anschrie. Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben, nehme ich an.
Jedenfalls trennten sich unsere Wege, nachdem ich die Highschool abgeschlossen hatte. Ich ging zwei Jahre aufs College, bis ich erkannte, dass ich nicht dafür geschaffen war, und meldete mich dann zu den Marines. Während meines ersten Einsatzes teilte man mir mit, dass sie gestorben war. Ich flog nach Idaho. Beerdigte sie. Ende der Geschichte.«
»Brüder oder Schwestern?«
»Nein.«
Seiner Miene fehlte jedes Gefühl, so wie seinem Leben jede Art von Liebe gefehlt hatte.
»Keine Cousins, Tanten, Onkel, Großeltern«, ergänzte er. »Auf meiner Beerdigung wird bestimmt niemand weinen. Es wird auch keine Salutschüsse geben, und niemand wird eine Flagge über meinen Sarg breiten. Ich bin dann einfach Geschichte, und niemand wird sich darum scheren. Ich am allerwenigsten.«
»Wie können Sie so etwas sagen?«
Er sah sie mit überraschter Miene an. »Wieso macht Sie das so wütend?«
Jetzt, wo er gefragt hatte, merkte sie, dass es sie tatsächlich wütend machte. »Es würde mich wirklich interessieren, wie jemand so gleichgültig über seinen eigenen Tod sprechen kann. Schätzen Sie Ihr Leben denn überhaupt nicht?«
»Eigentlich nicht.«
»Warum nicht?«
»Warum interessiert Sie das?«
»Weil auch Sie ein Mensch sind.«
»Ach so. Sie kümmern sich um die Menschheit im Allgemeinen, verstehe ich das richtig?«
»Natürlich.«
»Ach ja?« Er drehte sich ihr zu, bis nur noch seine rechte Schulter an der Wand des Ruderhauses lehnte. »Warum haben Sie ihn nicht angefleht, Sie hier rauszuholen?«
Der Themenwechsel kam völlig überraschend. »Wen?«
»Hamilton. Warum haben Sie ihm nicht erzählt, wo Sie sind, damit er jemanden losschicken kann, der Sie von hier wegbringt?«
Sie holte unsicher Luft. »Weil ich nach dem, was ich in den letzten anderthalb Tagen gesehen und gehört habe, nicht mehr weiß, wem ich trauen soll. Man könnte wohl sagen, ich habe mich für den Teufel entschieden, den ich schon kenne.« Sie meinte das ironisch, aber er blieb todernst.
Stattdessen beugte er sich vor. »Warum noch?«
»Wenn ich tatsächlich etwas besitzen sollte, das diesen Bookkeeper ins Gefängnis bringt, dann will ich Ihnen helfen, es zu finden.«
»Ach so. Patriotische Pflicht.«
»So könnte man es wohl nennen.«
»Hmm.«
Er rückte noch näher, bis er so dicht vor ihr stand, dass sie ihr eigenes Herz hörte, das immer stärker und schneller schlug. »Und … und wegen … dem, was ich Ihnen schon gesagt habe.«
Er trat nach vorn und baute sich vor ihr auf, so als würde er den prasselnden Regen gar nicht spüren. »Sagen Sie es noch mal.«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und nicht
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