Boeses mit Boesem
leerer als erwartet. Ein zweites Glas stand nicht da. Selbst wenn ich die ganze Flasche geschafft hätte, hätte ich das Tagebuch niemals für jedermann sichtbar herumliegen lassen. Ich schnüffelte an dem Glas. Es roch nach Whisky und nach sonst nichts.
Eine der Schreibtischschubladen stand offen. An dem Kram, den ich dort im Laufe der Jahre hineingeworfen hatte, kam mir nichts ungewöhnlich vor: leere Batterien, ein paar alte Quittungen, Büroklammern, einige Werbekulis und ein |104| altes Vergrößerungsglas, das ich in einer Filzhülle aufbewahrte. Letzteres hatte meinem Großvater gehört, aber es war nicht wertvoll. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich die Schublade zum letzten Mal geöffnet hatte, und es hatte sich nie etwas darin befunden, was sich zu stehlen gelohnt hätte.
Zur Vorbereitung des Schwindelmanövers gegen Mary hatte ich im Büro unmittelbar über der Tür eine versteckte Kamera installiert. Die Aufnahmen waren in einem Fall wie Marys oder auch bei ungedeckten Klientenschecks durchaus nützlich. Die Filme landeten auf meinem Computer, der genug Platz für ein ganzes Jahr kontinuierlicher Aufzeichnungen bot. Wenn ich Glück hatte, hatte er meine vergessenen Minuten aufgenommen.
Ich schaltete den Computer ein und betrachtete die Aufnahmen der vergangenen Nacht. Ich ließ die Aufzeichnungen bis zum letzten Ereignis vorlaufen, an das ich mich erinnerte, den Beginn der Einuhrnachrichten. Ich saß hinter meinem Schreibtisch und las im Tagebuch. Sonst befand sich keiner im Raum. Aus dem Blickwinkel der Kamera konnte man nicht sehen, auf welcher Seite das Tagebuch aufgeschlagen war. Die medikamentöse Unterstützung durch das FBI hatte mir genug Luft verschafft, um mir ein paar Spielsachen zu kaufen, aber eine Kamera, die gut genug gewesen wäre, Isaacs Worte auf der Seite zu lesen, befand sich preislich noch immer weit außerhalb meiner Reichweite.
Ich sah auf dem Film, wie ich mir die Seite in Isaacs Tagebuch genauer anschaute. In meinem Gesicht stand ein fragender Ausdruck, dort formte sich ein Verdacht, der noch nicht bestätigt war. Ich hielt die eine Hand auf die Seite gelegt, während ich mit der anderen in meinem Schreibtisch herumwühlte. Da musste ich die Schublade geöffnet haben. Bevor ich damit sehr weit kam, wurde plötzlich mein Körper schlaff. Die suchende Hand fiel herunter und die andere wurde nur von der Schwerkraft auf dem Buch festgehalten. |105| Meine Augen rollten zurück und nahmen den ganzen Kopf mit. Ich beobachtete, wie ich einen tiefen Atemzug tat und dann zu zittern begann.
Es war ein Anfall. Anfangs sah er genauso aus wie die anderen Attacken; im Krankenhaus der Veteranenbehörde hatte ich so heftige Zuckungen gehabt, dass drei kräftige Sanitäter nötig gewesen waren, um mich festzuhalten. Ich ging in den Schnellvorlauf und das Zucken sah sogar noch schlimmer aus. Ich hatte mich vom Schreibtisch zurückgestoßen, es aber geschafft, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Ich ließ den Film noch ein Stück weiter vorlaufen und wartete darauf, dass derjenige, der mich gerettet hatte, hereinkam. Stattdessen wurde der Anfall schwächer. Ich sah aus wie ein sterbender Fisch; jedes verzweifelte Zappeln um Wasser war schwächer als das vorhergehende. Statt mein Leben auszuhauchen, schlief ich ein. Einige Zeit später wachte ich auf, die Augen halb wahnsinnig und auf der Hut vor Feinden, die nicht da waren. Ich war genauso überrascht wie mein Video-Zwilling und bekam vor Verblüffung den Mund nicht mehr zu.
Allein aus einem Anfall herauszukommen war unmöglich. Das hatten die Ärzte der Veteranenbehörde mir gesagt und meine eigene Erfahrung bestätigte das. Außer einer intravenösen Dosis des antispastischen Wirkstoffs in den roten Tabletten konnte nichts einen zur Normalität zurückbringen. Deshalb hatte ich angenommen, mein Nickerchen auf dem Kachelboden letzte Woche sei ein Blackout oder eine neue Nebenwirkung gewesen. Vermutlich hätte ich mich über mein selbstständiges Aufwachen freuen sollen, aber ich machte mir zu viele Gedanken darüber, warum die Medikamente den Anfall nicht von vornherein verhindert hatten.
Ich spulte das Band zum Moment vor dem Anfall zurück und sah mir ins Gesicht. Dort las ich Konzentration, aber keine Vorahnung dessen, was bevorstand. Anfälle verursachen einen kurzfristigen Gedächtnisverlust während der Attacke |106| und manchmal auch schon kurze Zeit davor. Das mochte erklären, warum ich mich an das, was ich auf dem Band sah, nicht
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