Boeses Spiel in Oxford
selbst bei der Niederschrift von Notizen ein wenig zur Schwerfälligkeit tendierte; sie würde lange brauchen, bis sie alles gelesen hatte. Einige Sätze stachen ihr auf Anhieb ins Auge. Uns ist bekannt , dass Ihre Kompetenz vor allem auf dem Gebiet der Geldmarktpolitik liegt und dass Sie in verschiedenen Veröffentlichungen die These vertreten , es sei besser für Großbritannien , sich der Euro-Zone anzuschließen . Und ein Stückchen weiter: Sie fragten mich nach meinen Kontakten in Frankreich und Belgien und schienen ausgesprochen interessiert , als ich den einen oder anderen bekannten Namen bei der EZB erwähnte .
EZB? Was war das noch? Sie sollte unbedingt den seriösen Teil ihrer Zeitung ein wenig aufmerksamer lesen. Kate stürzte ihren Kaffee in einem Zug hinunter. Sie musste fahren! Immerhin war es möglich, dass sich unter Jeremys Habseligkeiten irgendeine nützliche Information verbarg, und außerdem wollte sie nicht, dass die herrschsüchtige Mrs Cherry nach eigenem Gutdünken über seine Sachen verfügte – höchstwahrscheinlich meinte sie damit einen Verbrennungsofen.
Sie steckte den Ausdruck in einen Schnellhefter, schrieb »Jester« auf den Aktendeckel und überlegte kurz, ob sie die Mappe lieber in ihrem Aktenschrank zwischen Hunderten ähnlicher Schnellhefter verstecken sollte. Nein, das war dann doch übertrieben! Sie ließ die Kladde samt dem Schlüssel zu Jeremys Haus auf dem Couchtisch im Wohnzimmer liegen. Dann konnte sie wenigstens gleich weiterlesen, wenn sie heimkam.
Ehe sie ins Auto einstieg, warf sie einen Blick zurück auf ihr Haus. Es stand zwischen seinen beiden dunklen, vereinsamten Artgenossen, die Jeremy und den Fosters gehört hatten. Ein Auftragsmord auf der einen Seite, ein unerklärlicher, tödlicher Unfall auf der anderen. Zum ersten Mal seit dem Tod der Fosters hatte Kate Angst um ihre eigene Sicherheit. Wenn nun Jeremys Tod doch etwas mit dem Mord an den Fosters zu tun hatte? Einem Impuls folgend stieg sie noch einmal aus, lief in ihr Wohnzimmer und knipste eine Lampe an. So war es besser! Das Licht würde sie begrüßen, wenn sie am Abend nach Hause zurückkehrte. Der Gedanke an drei düstere, unbewohnte Häuser gefiel ihr überhaupt nicht.
Sie legte die Straßenkarte neben sich auf den Beifahrersitz und fuhr in Richtung Umgehungsstraße. Da sie erst am Tag zuvor getankt hatte, brauchte sie bis Dayton nicht mehr anzuhalten.
Es war zwanzig vor fünf, als Kate auf den Besucherparkplatz des Krankenhauses von Dayton fuhr. Der Parkplatz kostete einsfünfzig, und Kate fluchte leise vor sich hin, während sie nach Kleingeld kramte, ein Ticket zog und es hinter die Windschutzscheibe legte. Der Minutenzeiger der Uhr in der Aufnahme rückte eben auf neun vor, als sie die Rezeption erreichte.
»Mrs Chess?«
»Ich muss nachsehen, ob sie noch da ist. Wen darf ich melden?« Die junge Frau sprach mit der gleichen mechanischen Stimme wie Mrs Chess.
»Ich komme wegen der Sachen von Jeremy Wells«, sagte Kate. Ihren Namen wollte sie lieber nicht preisgeben.
Mrs Chess, eine Frau um die vierzig in grauem Kostüm und mit streng frisiertem Haar, kam aus einem Hinterzimmer und übergab Kate ein ordentlich in Plastik verpacktes Paket mit der Aufschrift »Jeremy Wells, verst.«.
»Wenn Sie gestatten – ich brauche Ihre Unterschrift. Hier und hier.«
Kate unterschrieb so unleserlich wie nur möglich.
»Und dann brauche ich noch Ihren Namen in Druckschrift, Ihre Adresse und die Beziehung, in der Sie zu dem Verstorbenen standen«, fuhr Mrs Chess fort.
Kate zögerte kurz, dann schrieb sie: »Freundin und Nachbarin«.
»Ich habe den Schlüssel zu seinem Haus. Das Päckchen kommt zu seinen anderen Habseligkeiten, sobald ich wieder in Oxford bin«, sagte sie.
»Hm«, machte Mrs Chess, äußerte aber keine Kritik.
Und das tue ich auch ganz bestimmt – ehrlich, dachte Kate. Nachdem ich überprüft habe, ob sich etwas Interessantes darin befindet, schränkte sie den vorigen Gedanken ein. Vielleicht war es gar nicht mal so schlecht, dass sie erst so kurz vor Mrs Chess’ Schichtende in Dayton eingetroffen war. Wer wusste, ob die Dame sich bei einer früheren Ankunft nicht bemüßigt gefühlt hätte, Kates Eignung als nahe Angehörige von Jeremy in Frage zu stellen.
Kate konnte es kaum abwarten, nach Hause zu kommen. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, das höchstens schuhkartongroße Päckchen zu öffnen, sondern verließ umgehend den Parkplatz, fuhr auf die Hauptstraße hinaus und
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