Boeses Spiel
fischte er all die grünen Teile aus der Soße und tat sie mir auf den Teller. Es gab zum Nachtisch Früchtejoghurt, und er stellte alle Becher in die Mitte des Tisches und sagte: »Svetlana darf als Erste aussuchen.« Niemand widersprach ihm. Das fand ich überhaupt interessant, dass Ravi das Wort führte und seine Autorität nicht angezweifelt wurde.
Ich erfuhr, dass er im letzten Jahr Schulsprecher gewesen und jetzt von einem Mädchen aus der Elften abgelöst worden war, die Camilla hieß.
Ravis Vater war Inder und seine Mutter Deutsche. Er war in Kalkutta geboren worden.
Kalkutta stelle ich mir immer vor als den Vorhof der
Hölle, diese unvorstellbare Armut, die Menschen, die auf den Straßen sterben - obwohl Mutter Teresa dies berühmte Haus gebaut hat... Ein Ort, an dem arme Menschen ihre letzten Tage zubringen können. Wenn ich als Kind so etwas in den Nachrichten gesehen habe, musste ich immer sofort weinen. Ich wollte dann natürlich auch gleich Nonne werden und in diesen Orden eintreten. Mutter Teresa ist längst tot. Aber der Orden lebt weiter und das Sterbehaus gibt es immer noch.
Ravis Vater war Regisseur und drehte gerade, als ich zum Erlenhof kam, einen Film in den Hollywood-Studios. Weil sein Vater ein Star war, hatte Ravi automatisch unter den Mitschülern eine Art Promibonus. Er war nicht der Einzige mit solch einem »Hinterland« (ich brauchte nur an die »Prinzessin« Felicitas zu denken), und ich finde, dass so was wirklich praktisch ist. Man hat nichts getan, man hat nur die richtigen Eltern erwischt und schon führt man ein besseres Leben, egal wo man ist.
Ravi bot mir an, ich könne so lange bei ihnen am Tisch bleiben, bis »das Problem« sich irgendwie geklärt hätte. Das fand ich herrlich, so ersparte ich mir weitere Zurücksetzungen, wenigstens beim Essen …
Was ich aber nicht wusste: Als sie in meiner Klasse merkten, dass ich woanders Unterschlupf gefunden hatte, waren sie nicht etwa erleichtert, sondern eifersüchtig. Oder neidisch. Oder wütend. Ich weiß nicht, ich will mich in ihre Gefühlswelt nicht hineinversetzen. Es ärgerte sie ganz sicher, dass ausgerechnet Ravi mich an seinen Tisch geholt hatte. Ich war nicht abgestiegen in ihren Augen, ich war aufgestiegen. Wenn sie mich hatten demütigen wollen, so hatten sie das Gegenteil erreicht: Ich hatte jetzt einen besseren Platz.
Ich genoss das. Ich wusste nicht, dass sie mich dafür zahlen lassen würden. So wie sie mich für alles haben zahlen lassen, was ihnen nicht in den Kram passte. Für jede gute Zensur, für jedes Lob von den Lehrern.
Später erfuhr ich übrigens, dass mindesten vier Mädchen allein aus meiner Klasse in den glutäugigen Ravi verliebt waren. Er erhielt jeden Tag Liebesbriefe oder andere Liebesbeweise, auch anonyme, von Mädchen, die sich - natürlich - nicht trauten, ihm offen und direkt zu sagen, dass sie sich in ihn verknallt hatten.
Doch er hatte keine Freundin im Internat. Ich hab dann, als ich anfing, mich für Indien und die Geschichte des Landes und seine Kultur zu interessieren, gelesen, dass viele Inder aus reichem Haus schon als ganz kleine Kinder verlobt werden. Vielleicht ist es auch mit Ravi so. Vielleicht hat er in Indien eine Verlobte, die er eines Tages, wenn er erwachsen ist, heiraten wird. Ich habe mit ihm darüber nie gesprochen, so was wäre mir unendlich peinlich gewesen.
Dass er von den Mädchen im Erlenhof angehimmelt wurde, hat Ravi mir nie selbst erzählt. Er prahlte mit so etwas nicht. Das passte nicht zu ihm, er war in allem bescheiden und zurückhaltend. Er redete nicht gerne über sich. Vieles von dem, was ich über ihn wusste, hab ich von seinen Freunden erfahren.
In den ersten Wochen wurde ich von den Lehrern mit sehr viel Nachsicht behandelt. Wenn ich etwas nicht wusste, bekam ich eine Liste von Büchern und Aufsätzen, mit deren Hilfe ich alles nacharbeiten konnte, was mir fehlte, oder man gab mir bereits gehaltene Referate, an denen ich den Aufbau und die Struktur solcher Vorträge erkennen konnte.
Im Gymnasium wird einfach anders gelernt als auf der Realschule. Ich hab mir nächtelang diese Muster eingeprägt, danach fiel es mir leicht, meine Referate so zu strukturieren, wie es verlangt wurde. Es war eine echte Hilfe. Die Ausarbeitungen zerfasern nicht mehr, wenn man eine gute Gliederung voranstellt. Einmal hab ich in einer Nacht einen Vortrag vorbereitet, in Ethik. Das Fach unterrichtete unser Direktor, Herr Lohmann, persönlich. (Nur ausnahmsweise vertrat ihn
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