Bollinger und die Barbaren
Büsche und Bäume bläulich.
Ich dachte an Agneta. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie im Wald lebte, unter den Hagenaus, diesen Tieren. Sie war ein
so zartes, verletzliches Geschöpf. Ich redete mir ein, dass solche Menschen wegen ihrer dünnen Haut mit einer besonderen Gabe
gesegnet waren: dass sie weniger leiden mussten als normale Menschen. Dass sie einfach vieles, was ihnen das Leben zur Hölle
machen könnte, nicht wahrnahmen. Warum war Agneta zu den Hagenaus zurückgekehrt? Hatte sie Angst vor ihnen? Hatte sie mir
nicht vertraut? Hatten die Barbaren Agneta in der Hand?
Etwas kratzte an der Haustür. Ich stand auf und öffnete.
Lotte. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und schlüpfte herein. Seit dem Brand war sie nicht mehr bei mir gewesen. Das
war schon ein paar Tage her.
»Pierre ist vor dem Fernseher eingeschlafen.« Lotte hatte ein kleines Gerät mit einem Stecker dabei, es sah aus wie ein Föhn.
Sie steckte es in die Steckdose.
»Ein Babyfon – aus den Babyjahren meines Neffen.«
Wir hielten beide den Atem an. Man hörte durch den Lautsprecher des Babyfons ein unruhiges, alptraumhaftes Schnarchen. Im
Hintergrund lief der Fernseher.
»Hör mal, Lotte«, begann ich. »Wegen heute Mittag. Diese Szene auf dem Revier. Wegen der Polin. Das war nicht in Ordnung.«
Sie legte mir ihren Zeigefinger auf die Lippen.
»Pssst! Ich verzeihe dir. Du bist eben ein guter Mensch. Manche nutzen das aus.«
»Trotzdem ... es geht nicht, dass du mich so ...«
Sie küsste mich. Ich spürte ihre Lippen, ihre Zunge. Sie packte mich und zog mich an sich. Ich vergaß all den Ärger. Vergaß,
dass sie mich vor Agneta und Louis bloßgestellt hatte. Vergaß, dass sie böse sein konnte und dumm. Ich hielt meine Lotte im
Arm. Meine geliebte Lotte. Die Frau meines Lebens.
|77| Wir zogen uns aus und sanken aufs Bett. Zuerst war alles wie früher. Wie vor dem Feuer. Wie vor Agneta. Doch dann dachte ich
daran, dass Charles vielleicht gerade das mit seiner jungen Frau machte, was ich mit Lotte tat.
Alles ging schnell, schneller als sonst. Vielleicht wegen Agneta. Oder wegen des Brandes auf dem Wackesberg. Der hatte alle
durcheinandergebracht in Schauren. Lotte stöhnte. Sie schrie.
»Mach!«
Ich tat es. Das heißt, ich wollte es gerade tun – da sagte eine tiefe Stimme in meinem Rücken: »Mausi!«
Ich hielt inne. Lotte stieß mich weg. Sie sprang auf.
»Das ist Pierre«, flüsterte sie und schlüpfte eilig in die auf dem Boden verstreuten Kleider.
»Aber wir waren doch gerade ...«
»Lotte!«, krächzte es im Babyfon.
Lotte küsste mich auf die Stirn und war weg.
Ich vergrub meinen Kopf wütend im Kissen. Ich weinte. Dabei wusste ich nicht einmal, warum. Weil Lotte mich schon wieder verraten
hatte? Oder wegen Agneta, dem kindlichen, reinen Wesen, an dem sich draußen die Wölfe vergingen? Wegen der jungen Frau, die
mich um Hilfe gebeten hatte, der ich aber nicht hatte helfen können? Eigentlich hätte ich die ganze Nacht weinen können. Bis
dieser grässliche Eismond verschwand und die Sonne aufging und wieder etwas Wärme über das kalte Land legen würde.
»Schatz!«, sagte Lotte leise. Ich fuhr hoch.
Sie hatte das Babyfon vergessen. Es steckte noch in der Wand. Die Ladestandanzeige blinkte.
»Wo warst du denn, Mausi?«
»Nur mal kurz draußen. Die Fernsehsendung war so langweilig, und draußen ist Vollmond, mein Hase.«
»Vollmond?«
»Ja, mein Hase. Ein schöner, dicker Mond. Wie früher, wenn wir im Sommer nachts vom Tanzen nach Hause kamen.«
|78| Pierre Brück grunzte. »Dann könnten wir ja mal wieder ... Dann könnte die Häsin ihrem Hasen ja mal wieder ... Du weißt schon,
was dein Hase am liebsten mag ...«
Es krächzte. Lotte hatte den Apparat entdeckt und den Stecker herausgezogen.
Ich stand auf, zog mich an, rannte hinaus, stieg in den Wagen und raste davon. Nur weg. Weit weg.
I ch fuhr die ganze Nacht. Lothringen war in ein taghelles metallenes Licht getaucht. Wenn irgendwo Nachtschwärmer nach Hause
wankten, waren ihre Gesichter bleich. Wie Tote kamen sie mir entgegen.
In Bitche lenkte ich den Wagen hoch zur Zitadelle. Hier hatten die Franzosen den Deutschen 1870/71 am längsten getrotzt. Der
legendäre Kommandant Teyssier soll die Übergabe der Festung sogar noch verweigert haben, als sein Land längst kapituliert
hatte.
Oben stieg ich aus und lief eine Weile auf der Festungsmauer herum. Man hatte einen weiten Blick über die kleine Stadt
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