Bollinger und die Barbaren
draußen die Tür auf, und es wurde laut. Straßer ging hinaus, um nachzusehen, was los war. Aber er kehrte
schon nach wenigen Sekunden mit besorgter Miene zurück. Hinter ihm stürmten die Hagenaus in mein Büro. Sie waren in der Verfassung,
in der sie auf der Kirmes Randale machten und Bierzelte räumten.
»Sofort lasst ihr Agneta laufen!«, brüllte der Alte.
Louis sagte nichts. Er überließ es mir. Gut, dachte ich, dann werde ich ihm zeigen, dass es auch anders geht als mit Drohungen
und roher Gewalt.
»Monsieur Hagenau, diese junge Dame erhebt schwere Beschuldigungen gegen Sie und Ihre Söhne.«
Die jungen Hagenaus standen hinter dem Vater und taten so, als könnte nur der sie noch davon abhalten, alles kurz und klein
zu schlagen.
|74| »Welche Beschuldigungen denn?«
»Sie sagt, sie sei geschlagen worden ...«
Instinktiv holte der Alte zu einer mächtigen Ohrfeige aus, hielt dann aber inne und schrie Agneta an: »Was fällt dir ein,
du Miststück?!«
Louis schob sich nach vorne. »Hör zu, Hagenau: Es reicht! Wenn du dich nicht zusammennimmst, bekommst du Ärger. Du weißt,
Schauren ist für euch tabu.«
Der Alte schaute Louis lange an, seine Unterlippe bebte.
»Du hast meinen Hund erschossen, Gendarm. Dafür bezahlst du.«
»Du bekommst eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung, Alter. Du hast den Hund auf unseren patron gehetzt. Sei bloß froh, dass ich dich nicht auch gleich abgeknallt habe!«
Hagenau war kurz davor, zuzuschlagen – und ich hatte den Eindruck, Louis wartete darauf. Seine Hand lag auf dem Knauf der
Dienstwaffe.
Der jüngere der Brüder packte die Schulter des Alten.
»Mach uns nicht unglücklich, père !«
Der Alte schien sich etwas zu beruhigen. Doch dann schüttelte er die Hand seines Sohnes unwillig ab und wandte sich mir zu:
»Sie kommen aus Deutschland und glauben, Sie können hier alles machen, was? Aber wir gehen nicht ohne Agneta. Sie gehört uns.«
Agneta schaute wieder wie ein waidwundes Tier.
»Sie bleibt hier. Agneta ist ein freier Mensch, sie bestimmt selbst, wohin sie geht. Zu euch zurück will sie jedenfalls nicht.«
Der Alte griff an sein Herz. Ich dachte erst, er hätte eine Attacke. Doch er riss seine Jacke auf und suchte etwas in der
Innentasche. Dann zog er ein schmuddeliges Dokument hervor und hielt es mir hin.
Ich nahm es und las. Es dauerte, bis ich verstand: Es handelte sich um eine Heiratsurkunde aus Katowice. Hagenaus Sohn Charles
hatte Agneta auf dem dortigen Standesamt geheiratet. Ich war irritiert, reichte Louis das Papier, aber der hob nur hilflos
die Schultern.
|75| Der alte Hagenau hatte wieder Oberwasser. Er stellte sich in Positur, die Daumen in den Taschen der schmutzigen Weste, die
Knie durchgedrückt, das Kinn so hoch, dass die Lippen nicht mehr schlossen und seine fauligen Zähne zum Vorschein kamen.
»Und was sagen Sie jetzt, Herr P o l i z e i h a u p t m a n n?« Er sprach das Wort deutsch aus.
Jetzt wagte sich auch Charles aus der Deckung heraus. »Geben Sie sofort meine Frau frei! Sie ist legal mit mir verheiratet
und französische Staatsbürgerin.«
Langsam machte mich die Sache wütend. »Wo sind wir denn hier? Alle Welt tut so, als sei so eine Heiratsurkunde eine Art Freibrief.
Wenn Agneta weg von euch will, werden wir ihr helfen. Sie mag zehnmal mit einem von euch verheiratet sein: Sie darf gehen,
wohin sie will.«
Alle schauten Agneta an. Doch die verkroch sich in Lottes altem Regenmantel. Nur noch ihr blonder Wuschelkopf und die zierlichen
Knöchel waren sichtbar. Charles sank vor ihr auf die Knie. Er begann zu weinen.
»Ich werde dir alles das bieten, was ich dir in Polen versprochen habe.«
Agneta hob leicht den Kopf und schniefte. Sie wich meinem Blick aus.
Das war zu viel. Ich durfte den Hagenaus nicht die Regie überlassen. Ich zog Charles hoch.
»Das ist jetzt zu spät. Wenn sie hierbleiben will, bleibt sie hier.« Charles machte sich los. Er packte seine Frau an beiden
Oberarmen und schüttelte sie.
»Agneta, sag doch endlich was! Sag, was du willst!«
Agnetas bleiches Puppengesicht schien aus einem bösen Traum zu erwachen. Ihr Blick wanderte von mir zu Charles und zurück.
»Ich gehe mit. Alles war ein Irrtum, Monsieur Bollinger. Ich möchte mit meinem Mann gehen. Sie sind ein guter Mensch. Gott
wird es Ihnen lohnen.«
|76| I n dieser Nacht lag ich lange wach. Etwas Schweres lastete auf dem Land. Draußen war es taghell. Ein milchiges Mondlicht färbte
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