Bollinger und die Barbaren
irgendwohin gefahren, um sich
zu betrinken. Darüber schien er Agneta vergessen zu haben.
Da draußen auf dem Parkplatz wirkte sie wie ein Findelkind. Dabei war sie eine erwachsene Frau, sogar verheiratet, und hatte
bei den Hagenaus Dinge erlebt, mit denen eine bürgerliche Ehefrau wie Lotte ihr ganzes Leben lang nicht konfrontiert wurde.
Und dennoch – jetzt, wo ich sie so hilflos und verlassen herumirren sah, fragte ich mich, wozu sie eigentlich in der Lage
war. Hatten die Hagenaus sie wieder zu einem Kind gemacht? Auf jeden Fall war sie bei den Waldmenschen nicht selbstständiger
geworden. Wieso war sie in Polen bloß so schnell auf Charles Hagenaus Versprechungen hereingefallen? Sicher lag das nicht
an der Raffinesse ihres Gatten. Andere in Agnetas Alter hätten Charles sofort als Windmacher durchschaut. Vielleicht hatte
Agneta das ja auch, aber sie war ihm trotzdem gefolgt. Sie war auch mir sofort gefolgt – auf dem verkommenen Anwesen, auf
dem es keine vernünftige Frau länger als eine halbe Stunde aushalten würde. Obwohl sie mich nicht kannte. Sie folgte offensichtlich
jedem blind, von dem sie sich Schutz erhoffte. Egal, wer das war. Egal, was er tat und ihr versprach. Agneta war wie ein junger
Hund, der dem |131| Erstbesten hinterherläuft, aber winselnd sitzen bleibt, sobald niemand mehr ihm den Weg zeigt.
Deshalb hatte sie in Polen nicht selbst versucht, an eine Provinzbühne zu kommen. Deshalb war sie in Schauren geblieben und
hatte keinen Schritt in Richtung des Metzer oder Saarbrücker Theaters getan, obwohl sie sicher schnell erkannt hatte, dass
von den Hagenaus nichts zu erwarten war. Sie hatte in dem Saustall auf den Nächsten gewartet, dem sie hinterherlaufen konnte.
Und dieser gleiche Urinstinkt hatte sie wieder zu Charles zurückgebracht, als sie auf dem Revier festgestellt hatte, dass
ich ihr das, was sie sich so sehr ersehnte, nicht ohne Weiteres würde bieten können – auch weil es damals noch Lotte in meinem
Leben gegeben hatte. Als Charles vor ihr stand, war sie ihm, ohne zu zögern, gefolgt. Sie folgte immer jemandem. Nur wenn
keiner da war, dem sie folgen konnte, war sie verloren. Wie jetzt.
Ich fürchtete, dass etwas Schlimmes geschehen könnte. »So beeilen Sie sich doch!«, fuhr ich die Kassiererin an.
Als ich mich umdrehte, sah ich, wie draußen jemand auf Agneta zutrat und sie ansprach. Eine hochgewachsene, schlanke Frau
in einem grauen Hosenanzug. Die langen Haare waren zu einem Knoten zusammengebunden. Ich brauchte eine Weile, bis ich sie
erkannte: Ellinor Piepenbrock, die Assistentin von Cyril Schwierz.
Agneta wandte sich erschrocken um und wollte weglaufen, in Richtung Hauptstraße. Aber die Frau rief etwas hinter ihr her.
Agneta blieb stehen. Ellinor ging ruhigen Schrittes auf sie zu und nahm ihre Hand.
Da löste sich ein Wagen aus der Parkreihe – ein cremefarbener Straßenkreuzer. An den Vordertüren klebten knallbunte Plakate.
Sie zeigten das stark stilisierte Gesicht einer blonden Schönheit. Anna Leschinski . Werbung für das große Musical von Schauren. Das erste europäische Musical, wie das Plakat ankündigte. Die Hauptfigur hatte
eine gewisse Ähnlichkeit mit Agneta – aber so vage das Gesicht gestaltet war, hatte es eine Ähnlichkeit mit jeder schönen
blonden jungen Frau. Am Steuer des Wagens saß – in einem |132| Jackett aus grüner Seide – Cyril Schwierz und winkte Agneta freundlich zu.
Ich sah die Szene wie im Kino. In Zeitlupe. Und in warmen Farben, die das Herz erfreuen. Ellinor lud Agneta ein, in ihren
Wagen zu steigen. Agneta lachte und warf den Kopf zurück, als Cyril ausstieg. Er küsste ihr die Hand, und sie deutete einen
Knicks an. Agneta wirkte jetzt gar nicht mehr verschreckt – sie genoss offensichtlich den Charme und die Aufmerksamkeit des
Impresarios und seiner schönen Begleiterin. Wenn man diese glücklichen und strahlenden Menschen sah, gewann man den Eindruck,
dass sie sich seit Jahren kannten und miteinander prächtig harmonierten. Wie ein Team, das an den Erfolg gewöhnt war.
Agneta stieg vorne ein. Ellinor nahm hinter ihr Platz. Ich hörte das tiefe, kraftvolle Röhren des Motors, als der Straßenkreuzer,
mit seinem vornehmen Heck wippend, vom Parkplatz des »Migros« fuhr.
Cyril ließ alle vier Scheiben gleichzeitig nach unten gleiten. Agnetas Haare flatterten im Wind. Ich sah es deutlich: Agneta
war glücklich. Vielleicht zum ersten Mal, seit sie in Schauren war.
Der
Weitere Kostenlose Bücher