Bollinger und die Barbaren
Wagen mit den beiden schönen Frauen und dem vornehmen Herrn am Steuer schwebte durch Schauren. Es war wie bei einem Staatsbesuch.
Nur das jubelnde Volk am Straßenrand fehlte. Anna Leschinski stattete Schauren ihren ersten Besuch ab.
|133| 11. KAPITEL
Z uerst war nur ein unregelmäßiges Atmen zu hören, und ich wollte schon auflegen.
»Kann ich Sie sehen?«, fragte eine nervöse Frauenstimme.
»Wer ist da?«
»Claire Chariot.«
»Es ist schon spät. Wollen Sie morgen aufs Revier kommen?«
Sie erschrak. »Nein. Auf keinen Fall. Es ist prekär. Können wir uns heute noch treffen?«
Mir war das nicht recht. Ich musste am nächsten Morgen früh raus und hatte die Zähne schon geputzt.
»Es ist wichtig. Sehr wichtig«, hauchte sie.
Als ich in den Wagen stieg, sah ich Lottes Konturen hinter der Gardine des Wohnzimmers. Ich startete, der Rollladen ratterte
herunter.
Das Mondlicht lag hell über der Hochebene. Auf der Route Nationale waren nur noch wenige Autos unterwegs. Ich genoss die Ruhe.
Claire Chariot war eine bemerkenswerte Person. Sie rief mich spätabends an und bestellte mich auf einen Parkplatz an der Route
Nationale. Sie betrog ihren Gatten mit dem Bürgermeister. Und sie hatte nach langem Frust einen neuen Lebenssinn gefunden:
die Arbeit für das Heimatmuseum. Claire Chariot machte auf mich den Eindruck einer Frau, die wusste, was sie wollte. Pierre
Brück war der Mann, der ihr bei ihrer Selbstbefreiung geholfen hatte. Sie schaute zu ihm auf. Er war viril, er hatte Macht,
er nahm sich, was er wollte. Das wirkte auf Frauen, die unzufrieden mit ihrem Leben waren.
|134| Unversehens geriet ich in eine eigenartige Stimmung: Ich fühlte mich wie ein Liebhaber auf dem Weg zum Stelldichein. Mit Claire
Chariot. Ich fand sie mysteriös.
Sicher hatte meine derzeitige Situation damit zu tun: Ich war in eine Zwickmühle geraten, drohte, zwischen zwei Frauen zerrieben
zu werden, meine Gefühle waren auf den Kopf gestellt. Auf einmal wusste ich nicht mehr, wo ich hingehörte. Ich befand mich
im Zustand eines Liebenden: war hellwach und hochempfindlich, mein Herz floss über – aber die Geliebte war plötzlich weg.
Galten meine Gefühle Lotte oder Agneta? Ich wusste es selbst nicht mehr. Ich lechzte nach Glück, nach Erfüllung, aber mir
fehlte das Ziel. Da kam diese unglaublich schlanke, diese wohlriechende, diese unterkühlte Claire Chariot gerade recht. Ein
versiegelter Vulkan. Ich konnte mir vorstellen, wie es in ihr aussah: wahrscheinlich ähnlich wie in mir. Kein Wunder, dass
ihr später Anruf alles durcheinanderbrachte.
Mein Herz hämmerte, als ich mich dem Rastplatz »Aire de la belle chase« näherte. Ich hatte fast dreißig Kilometer zurücklegen
müssen. Es gab genügend Rastplätze, die näher bei Schauren lagen. Aber Claire Chariot hatte mich hierherbestellt. Weit weg
von zu Hause. Sie musste große Angst haben, mit mir gesehen zu werden.
Der Rastplatz war für diese späte Stunde erstaunlich belebt. Außer einem einsamen Truck aus den Niederlanden, dessen Scheiben
verhängt waren, sah ich etwa ein Dutzend PKWs. Ich fuhr im Schritttempo an ihnen vorbei. Einige hatten saarländische Kennzeichen:
SB und NK, Saarbrücken und Neunkirchen. Die Fahrer hatten die Innenbeleuchtung eingeschaltet.
Ich musste zweimal hinschauen: Die Insassen waren nackt. Eine Frau mit schweren, schlaffen Brüsten saß rücklings auf dem Schoß
eines dicken Mannes. Ein junger Mann in einem Slip ging die Reihe der parkenden Wagen entlang. Er bückte sich und winkte freundlich
in jedes Auto. Dann stieg er zu einer sicher schon bald sechzigjährigen, nackten Frau, deren gleichaltriger |135| Begleiter wie zu einem abendlichen Konzert gekleidet auf dem Rücksitz saß. Die Frau beugte sich sogleich über das Geschlecht
des Jungen. Ihr Begleiter schoss nach vorne, um alles genau zu sehen.
Ich setzte den Blinker, um wieder auf die Route Nationale einzubiegen. Im letzten Moment entdeckte ich den grauen Daimler
von Madame Chariot. Er stand etwas zurückgesetzt unter einer tief hängenden Weide. Ich bremste, stieß zurück und bog in eine
Parkbucht ein. Dann schaltete ich Motor und Lichter aus. Ich wartete.
Es geschah lange nichts. Das Einfachste wäre gewesen auszusteigen und hinüber zum Daimler zu gehen. Aber das wollte ich nicht.
Ich genoss diese Phase der Erwartung, des Ungewissen. Dazu trug auch die eigenartige Atmosphäre dieses mondbeschienenen Rastplatzes
bei. Die Wagen mit
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