Bollinger und die Barbaren
fuhr Brück ihn an, riss sich ein
Stück Brot ab und war weg.
»Und jetzt?«, fragte Miller.
»Jetzt teilen wir den Nachtdienst ein«, sagte ich.
A m Abend dieses Tages fühlte ich mich noch einsamer als sonst. Wenn ich an Agneta dachte, schnürte es mir den Hals zu. Sie
schien plötzlich so weit weg von mir. Weiter als an den Tagen, als ich in der Krone der alten Eiche über dem Anwesen der Hagenaus
gesessen und darauf gewartet hatte, einen Blick auf den Zipfel ihres zerschlissenen Kleides zu erhaschen.
Ich hatte sie verloren. Das wurde mir immer deutlicher, je länger ich über unsere Begegnung im Supermarkt nachdachte. Wenn
ich sie nur an einen anderen verloren hätte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine Frau einen anderen vorgezogen
hätte. Damit hatte ich immer leben können, denn ich |148| wusste ja, dass die Frau eine falsche Entscheidung getroffen hatte. Dadurch wäre sie in meiner Achtung gesunken.
Aber ich hatte Agneta nicht an einen Schöneren oder Reicheren oder Charmanteren verloren. Ich hatte Agneta an Ellinor verloren.
Und Ellinor war kein Mensch, kein Rivale. Ellinor war die Kunst. Das machte es so schlimm.
Wie gerne hätte ich mit Agneta zusammen die Kunst erobert. Sie hätte ein Star werden können, und ich hätte sie vom Parkett
aus angehimmelt. Dafür hätte ich geschuftet, dafür hätte ich Berge versetzt. Nur um sie als Star auf der Bühne zu sehen.
Aber Agneta hatte einen anderen Weg gewählt. Den schnelleren, den Königsweg. Ellinor hatte sie an der Hand genommen und führte
sie nun durch das geschmückte Hauptportal ins Theater. Mit mir hätte sie den Hintereingang nehmen müssen.
Künstler sind so. Echte Künstler. Sie hinterlassen auf ihrem Weg zum Ruhm auf beiden Seiten enttäuschte Liebende. Das muss
so sein. Wenn sie nicht so rücksichtslos wären, wären sie keine echten Künstler.
Trotzdem war es bitter, am Wegesrand zurückgelassen zu werden. Ich brachte es nicht einmal fertig, auf Agneta wütend zu sein.
Sie konnte ja nichts dafür. Sie erfüllte bloß das göttliche Gesetz. Göttinnen tun nichts anderes.
Vielleicht war ich doch für eine andere Frau geboren. Für eine bodenständigere, eine, deren ich mir sicher sein konnte, eine,
die auch ein wenig zu mir aufschaute. Eine reife, eine kluge Frau, die nichts anderes wollte als glücklich sein. Eine Frau
wie Lotte. Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich hatte mich gegen Lotte, die gut für mich war, und für Agneta entschieden, die
mich nun verlassen hatte.
Gegen dreiundzwanzig Uhr fasste ich mir ein Herz und wählte ihre Nummer. Wenn Pierre Brück ranging, würde mir schon irgendein
dienstlicher Grund für den späten Anruf einfallen.
Aber Pierre Brück ging nicht ran. Keiner ging ran. Dabei stand der Wagen des Bürgermeisters in der Auffahrt. Ich wartete zehn
Minuten und versuchte es erneut. Wieder ging keiner ran.
|149| Ich legte auf. Mein Puls wütete. Was war da los? Ich wählte erneut. Mit zitterndem Finger.
Besetzt.
Es blieb besetzt. Bis nach ein Uhr. So lange telefonierte kein Mensch. Vor allem nicht in Schauren.
|150| 12. KAPITEL
E s war im Staatstheater. Lotte saß neben mir und hielt meine Hand. Sie rieb mit ihrem linken Knie die Außenseite meines rechten
Knies. Es war mir unangenehm. Ich wagte dennoch nicht, sie zu bitten, damit aufzuhören. Dann ging der Vorhang auf, das Orchester
spielte die Ouvertüre. Zwei Reihen schwarz gekleideter Tänzer nahmen Aufstellung, ein Lichtkegel irrte suchend auf der Bühne
umher, dann fand er die richtige Stelle im hinteren Bühnenraum. Ein Tusch, und der Star des Abends trat auf. In einem mit
Pailletten besetzten Trikot.
Agneta. Sie war wunderschön. Selbst in dem grellen, unnatürlichen Bühnenlicht leuchtete ihre Haut fruchtig und frisch.
›Anna Leschinski‹. So hieß die Oper. Nach dem berühmten Roman von Puschkin.
Sie schritt auf sehr, sehr hochhackigen Schuhen durch das Spalier der Tänzer nach vorne. Bis zur Rampe. Sie war mir jetzt
ganz nahe.
Ich bekam eine Erektion, eine mächtige Erektion, sie hörte gar nicht mehr auf. Und Agneta schaute auf mich herab und lächelte.
Meine Erektion war so mächtig, dass meine Hose zu platzen drohte. Welch peinliche Situation, man sah ganz deutlich, in welchem
Zustand ich mich befand!
Lotte hatte längst bemerkt, was mit mir los war – und dass sie nicht der Grund meiner Erregung war. Sie versuchte mit ihren
schwarzen, ellenbogenlangen Theaterhandschuhen die
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