Bollinger und die Barbaren
überlegte. »Kennen Sie Yves Montand?«
»Ich bitte Sie, monsieur . Ich bin ein großer Bewunderer des französischen Chansons.«
Der Staatsanwalt dachte nicht daran, seinen geschäftsmäßigen Ton aufzugeben. »Montand ist 1989 von einer gewissen Gilberte
Drossard auf Unterhalt für ihre vierzehnjährige Tochter Aurore verklagt worden. Der berühmte Sänger hat jedoch beharrlich
geleugnet, der Vater des Mädchens zu sein – obwohl mehrere Zeugen versicherten, dass er vierzehn Jahre zuvor eine Affäre mit
Madame Drossard gehabt hatte. Das Tribunal de grande instance de Paris ordnete eine Blutuntersuchung an. Montand weigerte sich.«
»Die französische Justiz ist eben anders als die deutsche«, beeilte ich mich zu sagen. »Was nichts über die Qualität des jeweiligen
Rechtssystems aussagt.«
»Und wir hier sind in Frankreich«, entgegnete der Staatsanwalt verschnupft. »Und hier gibt es den Artikel 11, Absatz 1 des
N.C.P.C.«
Der N.C.P.C. ist der Nouveau Code de Procédure Civile , also die französische Prozessordnung.
|186| »Dieser Artikel besagt, dass der Richter verpflichtet ist, seine Schlussfolgerung aus einer Weigerung wie der von Montand
zu ziehen. Das taten die Richter des Tribunal de grande instance dann auch. So urteilten sie nach Montands Tod 1991 aufgrund dessen Weigerung, sich Blut abnehmen zu lassen, dass er der Vater
des Mädchens sein musste, das ihm auch noch verblüffend glich.«
»Solche Prozesse sind kompliziert.« Mir war schleierhaft, was der Streit um Yves Montands uneheliche Tochter Aurore mit den
Hagenaus zu tun hatte. Und je mehr sich der Staatsanwalt in die alte Prozessgeschichte vertiefte, desto mehr fürchtete ich,
dass die Sache für mich nicht gut enden würde.
»Die Angehörigen von Yves Montand legten Berufung ein. Schließlich ging es um ihren Anteil am Erbe. Es wurde eine Blutuntersuchung
unternommen bei den Klägerinnen in der Vaterschaftssache, also Mutter und Tochter Drossard, und der noch lebenden Schwester
des Sängers. Die Mediziner kamen zu dem Ergebnis, dass Montand zu 99,99 Prozent nicht der Vater von Aurore war. Sicher wundern
Sie sich, warum ich über all das so gut Bescheid weiß, Monsieur Bollinger?«
»Na ja, als Staatsanwalt muss man halt seine Nase in die Fachliteratur stecken ...«
Santini überhörte meine Entgegnung. »Ich war zu Beginn der Affäre Referendar in Paris und habe für meine zweite Staatsprüfung
diesen Fall gewählt. Um ganz sicherzugehen, ordnete der Cour d’appel de Paris im November 1997 die Exhumierung von Yves Montand an.«
Endlich kamen wir der Sache näher. So sehr mich die Geschichte des Chansoniers interessierte – ich wollte endlich wissen,
was das alles für mich und die Hagenaus bedeutete.
Der Staatsanwalt atmete tief ein – offensichtlich lag ihm dieser Fall ganz besonders am Herzen.
»Nun, die Untersuchung brachte ein zweifelsfreies Ergebnis. Yves Montand war wirklich nicht der Vater von Aurore Drossard.«
»Ein wunderbares Beispiel, wie durch eine mutige Vorgehensweise |187| jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen beendet werden können«, sagte ich – ich wollte ihn ermuntern, mir endlich die
Genehmigung für die Exhumierung in Niederbronn-les-Bains zu erteilen.
»Sie waren damals noch nicht in Frankreich, Monsieur Bollinger. Deshalb können Sie nicht wissen, was anschließend geschah.«
Wieder befiel mich eine düstere Ahnung: Bei Santini würde ich kein Glück haben.
»In der Öffentlichkeit brach eine wütende Diskussion aus. Von ›Le Monde‹ bis ›Libération‹ berichteten die Zeitungen über den
Fall – und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung zeigte sich empört darüber, dass ein französisches Gericht wegen einer
läppischen Vaterschaftsklage die Totenruhe des beliebten Sängers gestört hatte. Yves Montand war auf dem Friedhof Père-Lachaise
bestattet worden, müssen Sie wissen. In der Presse wurde von einer Entweihung des Grabes gesprochen. Und im Fernsehen berichtete
man von der makabren Prozedur. Es gab sogar eine Gesetzesinitiative in der Nationalversammlung, die das Ziel hatte, derartige
Exhumierungen ein für allemal zu verbieten.«
»Aber hier geht es um Mord, monsieur le procureur !«
»Dieser Mord existiert doch nur in Ihrer Fantasie, Bollinger«, schnauzte der Staatsanwalt mich an.
Das war ein starkes Stück. Offensichtlich hatte ich es in Metz mit einer besonders schwerfälligen Anklagebehörde zu tun. Aber
ich blieb ruhig
Weitere Kostenlose Bücher