Bollinger und die Barbaren
Niederbronn nicht einmal einen kleinen Bagger zur Verfügung hatte, wie das auf anderen großen
Friedhöfen üblich war.
»Vielleicht haben sie irgendwo einen Bagger stehen, aber sie benutzen ihn nicht, weil sie sonst schneller fertig wären und
weniger Geld dafür verlangen könnten«, flüsterte ich Straßer zu.
»Sie müssen die Kosten für diesen Quatsch doch nicht bezahlen«, entgegnete er mürrisch. »Das zahlt doch alles unser Staat.
Der französische Staat.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich. Die düsteren Mienen der drei Mitarbeiter der Kriegsgräberfürsorge deuteten darauf
hin, dass Dr. Backes ihrer Organisation die Kosten zugeschoben hatte.
Miller trat von einem Fuß auf den anderen. »Wir könnten doch irgendwo, wo es warm ist, warten, bis die Burschen fertig sind,
und eine Kleinigkeit trinken«, schlug er vor.
»Eine Exhumierung ist eine Amtshandlung. Die Protokoll führenden Beamten haben die ganze Zeit anwesend zu sein und den ordnungsgemäßen
Ablauf zu garantieren«, erklärte ich.
Natürlich hätte ich das Protokoll alleine anfertigen können. Ich wollte aber nicht, dass Chariot zu Hause herumerzählte, dass
die Schaurener Gendarmerie alkoholisiert einer Exhumierung beiwohnte.
Der Sarg war längst in sich zusammengebrochen, vom Holz waren nur noch einige morsche Teile übrig. Die Scharniere hatten |194| durch den Rost ihre Form verloren. Einer der Arbeiter ging zum Geräteschuppen und holte eine schwere Stablampe. Dann stieg
er in die Grube zu seinem Kollegen, und sie hoben zusammen die Schicht aus morschem Holz und Erdreich von der Leiche.
Der Körper war nur noch in Umrissen zu erkennen. Die Knochen waren angenagt und an manchen Stellen weiß wie Elfenbein. Die
Kiefer und der Schädel waren beim Zusammenbruch des Sarges vom Erdreich zermalmt worden. Der Tote sah aus wie ein großes Insekt
mit einem winzigen Kopf.
Einer der beiden in der Grube grunzte. Er bückte sich und zog etwas aus dem Dreck. Erst als er es mir hochreichte, sah ich,
worum es sich handelte. Es war eine goldene Halskette. Ich nahm ein Taschentuch und säuberte sie. Das Gold sah aus, als wäre
kein Tag seit dem Krieg vergangen. An der Kette hing ein halbrundes Stück Metall mit einer eingestanzten Nummer. Ich wusste
sofort, worum es sich handelte. Es war eine Erkennungsmarke der deutschen Wehrmacht.
M eine beiden Kollegen bestanden darauf, dass ich ihnen den Nachmittag freigab.
»Man ist nicht jeden Tag Zeuge bei einer Exhumierung, das geht auch einem erfahrenen Polizeibeamten an die Nieren«, sagte
Straßer – und Alain Miller nickte gewichtig.
Immerhin konnte ich sie dazu überreden, mich vorher noch vor dem Revier abzusetzen. Ich war sicher, dass sie anschließend
in den »Forêt de Schauren« fuhren – dort würden sie ihre Trauer ertränken.
Der Straßenkreuzer von Cyril Schwierz stand in der Einfahrt zum Revier. Der Impresario erwartete mich vor der verschlossenen
Tür. Er war verärgert.
»Da sind Sie ja endlich, Herr Bollinger. Ich warte schon über eine halbe Stunde. Wie ich höre, haben Sie diese Saboteure auf
freien Fuß gesetzt. Wie stellen Sie sich das vor?!«, fuhr er mich an.
|195| Wortlos schloss ich auf und ließ ihn ein. Die ganze Zeit läutete drinnen das Telefon.
»Für morgen habe ich mein gesamtes Ensemble und die Medien nach Schauren bestellt. Sie können sich doch denken, dass ich da
keine Störungen gebrauchen kann.«
Ich rannte an ihm vorbei ins Büro und ging ans Telefon. In dem Moment, in dem ich mich meldete, wurde aufgelegt.
»Ich bestehe darauf, dass die Hagenaus wieder in Haft genommen werden!«, verlangte Schwierz.
»Kann es sein, dass Sie Angst vor ihnen haben, Herr Schwierz?« »Wundert Sie das? Das sind gefährliche Saboteure meiner Pläne.
Ich bin sicher, es gibt Leute, die sie bezahlen.«
»Ich glaube, es geht denen gar nicht mehr um das Musical. Es geht um Agneta. Sie haben ihnen das Mädchen weggenommen, und
die Hagenaus wollen es wiederhaben. Im Grunde haben Sie es sich selbst zuzuschreiben.«
Schwierz zündete sich eine Zigarette an. »Bollinger, Agneta ist Anna Leschinski wie aus dem Gesicht geschnitten. Als wäre
sie die Tochter der Prinzessin. Schauen Sie sich die alten Bilder an! Wir wären doch blöd, wenn wir uns das entgehen lassen
würden. Und für Agneta ist es die große Chance. Gut, sie ist nicht bühnenreif. Aber das wird sich finden. Das Showgeschäft
ist zu neunzig Prozent Verblüffung und
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