Bonbontag
getroffen?«
»Ich habe mich mit deiner ... Großmutter unterhalten. Ich war mit Anni unterwegs und du mit deiner Oma. So kurz vor Weihnachten. Es war ein furchtbar finsterer Tag. Wir haben Kerzen gekauft. Wir kamen ins Gespräch ... weil euch beiden im Dunkeln nicht ganz geheuer ist. Du hast erzählt, dass du jemanden kennst, bei dem das auch so ist.«
Ari folgte seiner Mutter, als sie in die Küche ging, um die Saftkaraffe aufzufüllen.
»Weißt du noch mehr?«, flüsterte er.
»Nicht viel. Er ist oft bei seiner Großmutter, weil der Vater anscheinend ein Problem mit dem Trinken hat und die Mutter andere Probleme. Die Großmutter ist eine In-germanländerin. Kam im Krieg als Waisenkind nach Finnland und wurde zwischendurch von der Pflegemutter nach Schweden gebracht, damit sie nach dem Krieg nicht in die Sowjetunion zurückmusste. Furchtbar ...«
Unnötig, das zu kommentieren. Die Mutter war unschlagbar. Ihr Sohn hatte nichts davon geerbt, in keiner Form.
Ari setzte sich nicht wieder an den Tisch, um zu zeigen, dass es Zeit war, zu gehen. Dennoch füllte die Mutter ungeniert Tomis Glas.
Ari sah sie an. Sah den Jungen an.
Wo suchte und fand der Mensch Schutz und Zuflucht?
Nahrung, Ruhe, Sauerstoff, Temperaturen, die demmenschlichen Körper angemessen waren. Ein Ort, ein kleiner Raum als Teil der Welt, etwas, wo man hingehörte. Das Gefühl, einem anderen etwas zu bedeuten. Dass man nicht nur leben musste . Aus Gewohnheit. Automatisch, wie man atmete. Dass man atmen wollte . Dass man Leben durfte .
Schutzlosigkeit fand man allerdings schnell. Ein kleines Heben des Kopfes reichte. Man musste nur nach oben schauen, ins Weltall. In die gigantische Gleichgültigkeit.
Auch das könnte eine Filmszene sein, eine Situation.
Was ist das, dass ich in Gedanken immer schon anderswo bin, nie da, wo ich mich gerade befinde? Plötzlich begriff Ari, dass er seine Mutter vermissen würde, sobald er die Wohnung verließe. Er würde sich zurücksehnen. Nach dem Moment zuvor, nach dem vertrauten Tisch mit der Mutter und dem außergewöhnlichen Junge, der auf dem Hocker schaukelte. Er würde sich danach sehnen, Teil der Nähe zu sein, die es in jenem Augenblick hätte geben können.
Dieser Augenblick würde nicht kommen.
»Sollen wir gehen?«, fragte Tomi.
»Geht nur«, erklärte die Mutter mit Nachdruck, bevor Ari ein Wort herausbrachte.
»Aber zuerst die Namen ins Gästebuch!«
Die Namen ins Buch, würde Ari in seinem Roman schreiben.
13
Katri überprüfte die Namen und Personenkennziffern, anschließend suchte sie nach den Angaben im Adressenverzeichnis. Tomis Mutter hatte einen neuen Mann und einen neuen Nachnamen, außerdem eine kleine Tochter, und allestanden unter derselben Adresse. Die Patchworkfamilie lebte, wie auch Tomis Vater, in einem ganz anderen Teil der Stadt als der Schriftsteller, aber ... Bingo! Die Großmutter des Jungen wohnte fast in der Nachbarschaft. Dann her mit den Telefonnummern!
Als Erstes natürlich Anruf bei der Sorgeberechtigten. Bei der Frau, die vor vier Jahren auf dem Balkon zitterte, nachdem sie geschlagen worden war. Die Mutter, auf die der Junge vergebens gewartet hatte. Die Mutter, die sich dann änderte. War sie es?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Hallo«, meldete sich eine Frauenstimme.
Der Hintergrundlärm war stark. Ein Lokal?
Katri stellte sich vor, ließ aber unerwähnt, dass sie sich kannten.
»Entschuldigung, von wo?«
»Vom Allgemeinen Sozialen Dienst, ASD. Sind Sie Taina Jokela?«
»Was ... Hat Tomi was angestellt?«
»Ich rufe tatsächlich wegen ihm an ... Er ist also nicht bei Ihnen?«
»Was hat er getan?« In ihrer Stimme lagen Sorge, Zorn, Erschöpfung.
»Um so etwas geht es nicht«, beruhigte Katri die Frau. »Bei uns ist nur gestern eine Meldung über einen Jungen eingegangen, der allein unterwegs ist ...«
»Dieser verdammte Scheißkerl ...«
»Verzeihung?«
»Meinen Ex meine ich ... den Vater ... Wir haben heute Morgen telefoniert, und er hat versprochen, dass er den Jungen ...«
»Heute Morgen? War der Junge gestern ...«
»Genau ... Hast du gestern gemeint?«
»Ja«, antwortete Katri. Inzwischen hörte sie an der Artikulation deutlich, dass die Frau am anderen Ende der Leitung alkoholisiert war.
»Also, pass auf, die Ferien jetzt, die warn eigentlich Papa-Urlaub ... Aber er hat den Jungen anscheinend zu meiner Schwiegermutter gebracht ... Und die Schwiegermutter, die sowieso schon tatterig war ... die ist krank geworden ...
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