Bone 01 - Die Kuppel
ständig eine irgendwo über ihm zu sein, sodass er sie meistens gar nicht beachtete. Er entspannte sich sogar und verfiel in einen Tagtraum, in dem der Stamm so dringend Jäger benötigte, dass man ihn gar nicht für einen Fleischhandel wollte, sondern ihn mit offenen Armen empfing. Alle jubelten, wie es die Leute getan hatten, als er rechtzeitig zur Hochzeit aus Haarigen-Wege zurückgekehrt war. Moosherz und Steingesicht lachten, und Wandbrecher schloss ihn in die Arme. Ein Lächeln stahl sich auf Stolperzunges Gesicht, aber es verschwand wieder, als ihm klar wurde, dass in diesem Bild kein Platz für Indrani war. Außerdem glaubte er eher, dass er seinen Bruder angreifen würde, falls Wandbrecher versuchen sollte, ihn zu umarmen.
Indranis Augen bewegten sich zuckend unter den Lidern. Unglaublich zarte Wimpern, viel länger als die normaler Frauen. Sein Lächeln kehrte zurück. Was interessierten ihn normale Frauen?
»Ich werde dich beschützen«, sagte er zu ihr.
Gegen Mittag wachte Indrani erneut auf und zuckte zusammen, als sie ihn sah.
»Wo wir sind?«, fragte sie in Menschensprache.
»Du warst k-krank«, sagte Stolperzunge. »V-vergiftet.« Es erstaunte ihn immer wieder, wie wenig er in ihrer Gegenwart stotterte.
»Oh. Kann ich trinken?«
Er reichte ihr einen Lederbeutel. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Gewicht, doch als er sich vorbeugte, um ihr zu helfen, ließ sie ihn fallen und wich vor ihm zurück.
Er zuckte ebenfalls zurück, genauso erschrocken, wie Indrani wirkte. Würde sie jetzt wieder unverständliches Zeug plappern? Doch dann hob sie den Beutel auf, als wäre nichts geschehen. Jetzt kam sie besser damit zurecht, nachdem sie die Hälfte des Inhalts verschüttet hatte.
»Du hast nicht gesagt, wo sind wir.«
»Wir sind im a-a-alten Teil von Wege. Es… tut mir leid, Indrani. Ich habe etwas sehr D-d-dummes getan. Ich habe dich aus Wandbrechers Haus entführt, und jetzt werden wir beide st-t-terben.«
Indrani schockierte ihn, indem sie den Kopf zurückwarf und laut lachte, bis sie zu schwach dazu war. Als Stolperzunge später ein paar Stücke vom noch übrigen Bluthaut-Fleisch zurechtschnitt, zog sie eine angewiderte Miene.
»Wenn du wüsstest, was ich d-d-durchgemacht habe, um dieses Fleisch für dich zu holen, wärst du nicht so h-h-hochnäsig!«
»Dann behalte es!«, sagte sie. »Es ist gut, wenn ich sterbe.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nein«, sagte sie. Dann schloss sie die Augen und sprach mit erschöpfter Stimme weiter. »Ich traurig, dass du stirbst, Stolperzunge. Ich traurig, dass du und ich nicht können zurückkehren zu unseren Stämmen.«
»Erzähl mir von deinem Stamm«, forderte er sie auf, aber eher, um die Spannung zu lindern.
»Dein Bruder ständig fragt. Ständig, ständig. Aber selbst wenn ich erzähle, sind keine Worte in seinem Kopf, um zu verstehen.« Sie zeigte auf das Große Dach und die Sphären, die genau über ihnen hingen. »Mein Stamm ist dort. Mein Stamm beobachtet mich und lacht. Viele da sind froh, dass ich verletzt bin. Viele nicht, aber jetzt still. Sehr still. Angst, nach mir zu fragen.«
Sie schien schrecklich traurig zu sein.
»D-dein Stamm lebt in den Sphären?«
»Nein«, sagte sie. »Sphären sind… Nein, wir leben im Großen Dach. Ich dir es nur sage, weil du mich hast gerettet. Nicht Wandbrecher.«
Stolperzunge unterdrückte seine Begeisterung über ihre Worte, indem er zum Großen Dach hinaufblickte. Von den höchsten Türmen hatte er manchmal gesehen, wie es sich zum Horizont hinunterwölbte. Die Stammeslegenden berichteten, wie der Reisende und sein Jägertrupp es fast erreicht hatten, als das Verhängnis eingetreten war. Er erzählte Indrani die Geschichte, aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf.
»Das Dach kommt niemals, niemals bis hier!«, sagte sie.
Ihre Selbstgefälligkeit ärgerte ihn, und er stand kurz davor, aus der Hütte zu stürmen, als sie die Augen weit aufriss und sich aufsetzte.
»Warte, Stolperzunge. Verzeihung. Du hast recht. Das Dach kommt nicht bis hier, aber es gibt einen Ort, wo hier bis zum Dach reicht. Du musst durch viele, viele Reviere wandern, um diesen einen Ort zu erreichen.«
Also stimmte es doch! Der Reisende hatte das Ende des Großen Dachs gefunden! Stolperzunge stellte sich vor, wie er selbst zu diesem Ort ging, wie er hinaufkletterte und von oben auf Wandbrecher herabschaute. Welche seltsamen Wesen mussten dort leben, und was für Jagdzüge mussten sich dort veranstalten lassen! Kein
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