Boomerang
Berater für den amerikanischen Aktienmarkt |102| gelesen«, sagt da der Mönch. »Er heißt Robert Chapman …« (Ich hatte nie von ihm gehört. Wie sich herausstellen sollte, war er der Autor eines Newsletters über die globale Finanzwirtschaft.) Seine Mitbrüder, so Pater Matthew, fragten sich, was ich wohl von Robert Chapman halte. Und ob es sich lohne, auf ihn zu hören …
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Am Tag vor meiner Abreise aus Griechenland wurde im Parlament ein Gesetz debattiert und zur Abstimmung vorgelegt, mit dem das Rentenalter angehoben, die Staatspensionen gekürzt und die Annehmlichkeiten des öffentlichen Dienstes zurückgeschnitten werden sollten. (»Ich bin sehr dafür, die Zahl der Staatsdiener zu reduzieren«, vertraute mir ein IWF-Ermitt ler an. »Doch wie soll das gehen, wenn man gar nicht weiß, wie viele es überhaupt gibt?«) Premierminister Papandreou präsentierte dieses Gesetz wie alles, was er seit seiner Entdeckung der Fehlbeträge eingebracht hat: nicht als seine eigene Idee, sondern als nicht verhandelbare Forderung des IWF. Offenbar herrscht die Vorstellung, dass die Griechen, die nie auf Forderungen aus dem eigenen Land hören würden, Opfer zu bringen, auf Vorgaben von außen hören könnten. Will heißen, sie wollen sich eigentlich nicht einmal mehr selbst regieren.
Zu Tausenden strömen Staatsbedienstete auf die Straßen, um gegen das Gesetz zu protestieren. Wir haben es mit der griechischen Variante der Tea Party zu tun: Finanzbeamte, die Schmiergeld kassieren, Lehrer an staatlichen Schulen, die niemandem etwas beibringen, gut bezahlte Mitarbeiter einer maroden staatlichen Eisenbahn, die nie pünktlich kommt, Angestellte öffentlicher Krankenhäuser, die sich dazu bestechen lassen, überteuertes Material einzukaufen. Das sind sie und |103| das sind auch wir: eine Nation, die die Schuld bei jedem anderen sucht, nur nicht bei sich selbst. Die Angehörigen des öffentlichen Dienstes versammeln sich in Gruppen, die an kleine militärische Einheiten erinnern. Inmitten jeder solchen Einheit gibt es zwei, drei Reihen junger Männer, die als Fahnenhalter getarnte Knüppel schwenken. Vom Gürtel baumeln Skimützen und Gasmasken, damit sie auch durch den unvermeidlichen Einsatz von Tränengas nicht außer Gefecht gesetzt werden. »Der stellvertretende Premierminister hat uns gesagt, dass sie auf zumindest einen Toten hoffen«, erzählte mir ein maßgeblicher griechischer Ex-Minister. »Es soll Blut fließen.« Zwei Monate zuvor, am 5. Mai, hatte der Mob beim ersten solchen Protestmarsch einen Vorgeschmack darauf gegeben, wozu er fähig war. Als die Demonstranten in einer Zweigstelle der Marfin Bank Menschen arbeiten sahen, schleuderten junge Männer Molotowcocktails in das Gebäude und gossen Benzin in die Flammen, wodurch der Ausgang blockiert wurde. Die meisten Mitarbeiter der Bank retteten sich über das Dach, doch drei kamen in den Flammen um – darunter auch eine junge Frau, die im vierten Monat schwanger war. Während sie starben, schrien die Griechen auf den Straßen, es geschehe ihnen recht, weil sie es gewagt hätten, zu arbeiten. Das Ganze spielte sich direkt vor den Augen der griechischen Polizei ab, doch verhaftet wurde niemand.
Wie schon an anderen Tagen haben die Demonstranten das ganze Land praktisch lahmgelegt. Auch die Fluglotsen streiken und haben die Flughäfen geschlossen. Am Hafen von Piräus lässt der Mob Kreuzfahrtpassagiere nicht zum Einkaufen von Bord. Mitten in der Hauptsaison wird de facto verhindert, dass die so dringend benötigten Touristendollars ins Land rollen. Jeder in der Privatwirtschaft Tätige, der nicht aus Solidarität |104| die Arbeit niederlegt, bringt sich in Gefahr. In ganz Athen werden Läden und Restaurants geschlossen – und auch die Akropolis.
Die Führungstruppe versammelt sich mitten auf einem breiten Boulevard, nur wenige Meter von der verkohlten, ausgebrannten Bankfiliale entfernt. Dass sie die Bank niederbrannten, ist unter den gegebenen Umständen unglaublich. Gäbe es Gerechtigkeit auf dieser Welt, würden die griechischen Bankangestellten auf die Straße gehen und gegen die moralische Haltung des griechischen Normalbürgers protestieren. Die Marmortreppe der Marfin Bank ist zu einem traurigen Schrein geworden: ein Haufen Plüschtiere für das ungeborene Kind, ein paar Bilder von Mönchen, ein Schild mit einem Satz des antiken Rhetorikers Isokrates: »Die Demokratie zerstört sich selbst, weil sie ihr Recht auf Freiheit und Gleichheit missbraucht
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