Boomerang
– weil sie ihren Bürgern vermittelt, Dreistigkeit als Recht zu begreifen, Gesetzlosigkeit als Freiheit, aggressive Äußerungen als Gleichheit und Anarchie als Fortschritt.« Am anderen Ende der Straße steht eine Phalanx von Bereitschaftspolizisten, Schild an Schild, wie spartanische Krieger. Hinter ihnen erhebt sich das Parlamentsgebäude. Dort drin wird vermutlich hitzig debattiert, doch was gesagt und beschlossen wird, bleibt ein Geheimnis, da auch die griechischen Journalisten nicht arbeiten. Die Menge beginnt zu skandieren und gegen die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Polizisten vorzurücken. Ein Ruck geht durch die Einsatzkräfte. Es ist einer dieser Momente, in denen einfach alles passieren kann. Offen ist eigentlich nur die Frage, in welche Richtung die Masse tendiert.
Genauso geht es auf den Finanzmärkten zu. Die Frage, die alle gern beantwortet hätten, lautet: Wird Griechenland zahlungsunfähig? |105| Eine verbreitete Meinung lautet, das Land habe gar keine andere Wahl. Die Maßnahmen, die die Regierung verhängt, um Kosten zu senken und Einnahmen zu erhöhen, werden die verbliebene produktive Wirtschaft aus Griechenland vertreiben. In Bulgarien sind die Steuern niedriger, in Rumänien die Arbeiter weniger anspruchsvoll. Doch es gibt noch eine zweite, interessantere Frage: Selbst wenn es technisch möglich wäre, dass die Griechen ihre Schulden zurückzahlen, nicht mehr über ihre Verhältnisse leben und ihr Ansehen in der Europäischen Union zurückgewinnen – stehen ihnen dafür intern die nötigen Ressourcen zur Verfügung? Oder können sie gar kein Gefühl der Verbundenheit mehr empfinden, das über ihre kleine Welt hinausreicht, und wollen sich deshalb nur noch ihrer Verpflichtungen entledigen? Von außen betrachtet erscheint es verrückt, einfach auf alle Verbindlichkeiten zu pfeifen. Dann würden sämtliche griechischen Banken sofort pleitegehen und das Land könnte notwendige Importgüter nicht mehr bezahlen (Öl zum Beispiel). Die Regierung würde auf viele Jahre hinaus durch deutlich höhere Zinsen abgestraft werden, wenn sie denn jemals überhaupt wieder Kredit bekäme. Doch das Land verhält sich nicht wie ein Kollektiv. Ihm fehlt der Instinkt der Mönche. Es benimmt sich wie eine Ansammlung atomisierter Partikel, die es gewohnt sind, auf Kosten des Allgemeinwohls eigene Interessen zu verfolgen. Die Regierung bemüht sich ohne jeden Zweifel, in Griechenland wieder eine Form von Gemeinsinn zu wecken. Die Frage ist bloß: Geht das überhaupt, wenn dieser erst einmal verloren ist?
|106| Irland – auf Sünden gebaut
A ls ich Anfang November 2010 nach Dublin flog, war die irische Regierung gerade eifrig dabei, ihre Bürger über den erlittenen Verlust hinwegzutrösten. Es war zwei Jahre her, dass ein Grüppchen irischer Politiker und Banker beschlossen hatte, sämtliche Schulden der größten irischen Banken abzusichern, doch die Menschen merkten erst jetzt, was das eigentlich bedeutete. Die Zahlen waren erdrückend. Die Anglo Irish Bank, von der die irische Regierung zwei Jahre zuvor behauptet hatte, sie litte unter einem »Liquiditätsproblem«, räumte allein Verluste in Höhe von 34 Milliarden Euro ein. Ein Amerikaner, der in Dollars denkt, müsste diesen Betrag etwa mit 100 multiplizieren, damit er sich für ihn so anhört wie »34 Milliarden Euro« für einen Iren. Das wären dann 3,4 Billionen Dollar. Nur bei
einer einzigen
Bank, wohlgemerkt. Dabei beliefen sich die Darlehen der Anglo Irish Bank, die größtenteils an irische Bauträger erfolgt waren, insgesamt auf 72 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Die Bank hatte knapp die Hälfe ihres investierten Kapitals in den Sand gesetzt.
Die beiden anderen irischen Großbanken, die Bank of Ireland und vor allem die Allied Irish Banks (AIB), blieben Irlands schmutziges kleines Geheimnis. Beide waren älter als |107| die Republik Irland selbst (die Bank of Ireland wurde 1783 gegründet, die Allied Irish entstand aus der Fusion dreier Institute, die aus dem 19. Jahrhundert stammten) – und offenbar ebenfalls pleite. Die beiden altehrwürdigen Banken befanden sich mehrheitlich im Besitz des irischen Staates, der jedoch weniger darüber verlauten ließ als über Anglo Irish. Da sie nicht nur hohe Summen an irische Bauträger verliehen hatten, sondern auch an irische Eigenheimkäufer, waren ihre Verluste natürlich horrend – und ähnlich geartet wie die der noch jungen Anglo Irish. In einer Zeit, in der die Kapitalisten ihr Bestes
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