Boomerang
irischer Bauträger. Er ächzte unter mehreren hundert Millionen Euro Schulden, die er nie im Leben zurückzahlen könnte.
Irlands Rückschritt ist deshalb so beunruhigend, weil er Fragen in Bezug auf den zuvor erzielten Fortschritt aufwirft: Selbst jetzt weiß niemand so ganz genau, wieso es den Iren |110| zunächst so gut ging. Von 1845 bis 1852 erlebte das Land den größten Bevölkerungsschwund der Weltgeschichte: Von 8 Millionen Einwohnern wanderten 1,5 Millionen aus. Eine weitere Million Iren verhungerte oder starb an den Folgen der Unterernährung. Innerhalb von zehn Jahren wurde aus einem der am dichtesten besiedelten Länder Europas eines der bevölkerungsärmsten. Die Gründung des irischen Staates im Jahr 1922 mochte wirtschaftliche Hoffnungen geweckt haben. Die Iren hatten nun eine eigene Zentralbank und konnten eine eigene Wirtschaftspolitik betreiben. Doch bis zum Ende der 1980er Jahre gelang ihnen nicht, was die Ökonomen sich von ihnen erhofft hatten: an den Lebensstandard ihrer Nachbarn anzuknüpfen. Noch in den 1980er Jahren lebte von nur 3,2 Millionen Iren eine Million unterhalb der Armutsgrenze.
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Was sich seitdem in Irland vollzogen hat, ist beispiellos in der Wirtschaftsgeschichte. Mit Beginn des neuen Jahrtausends sank die Armutsrate unter 6 Prozent und Irland war nach Angaben der Bank of Ireland das zweitreichste Land der Welt. Wie war es dazu gekommen? Ein cleverer junger Ire, der Ende der 1990er eine Stelle bei Bear Stearns ergattert hatte und nach fünf Jahren in New York und London heimkehrte, fühlte sich
arm
. In den letzten zehn Jahren hatte man im irischen Immobiliengeschäft meistenteils schneller und mehr Geld verdienen können als im amerikanischen Investmentbanking. Wie war es
dazu
gekommen? Erstmals in der Geschichte strömten Menschen und Geld nach Irland – nicht in die andere Richtung. Das drastischste Beispiel dafür sind die Polen. Die polnische Regierung führt zwar nicht offiziell Buch über die Bewegungen ihrer Erwerbstätigen, doch nach Schätzungen |111| des Außenministeriums haben seit dem Beitritt zur Europäischen Union eine Million Polen ihr Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten – und auf dem Höhepunkt der Entwicklung im Jahr 2006 befand sich eine Viertelmillion von ihnen in Irland. Damit sich in den Vereinigten Staaten ein entsprechender demografischer Verzerrungseffekt ergäbe, müssten 17,5 Millionen Mexikaner Green Cards erhalten.
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Wie kam das alles? Es gibt viele Theorien: die Beseitigung von Handelsbarrieren, die Entscheidung, kostenlos weiterführende Bildung anzubieten, eine in den 1980er Jahren eingeführte niedrige Körperschaftsteuer, die Irland zur Steueroase für ausländische Unternehmen machte. Der interessanteste Aspekt wurde vielleicht von zwei Bevölkerungswissenschaftlern der Harvard University, David E. Bloom und David Canning, in ihrem Aufsatz »Contraception and the Celtic Tiger« (»Empfängnisverhütung und der keltische Tiger«) aufgegriffen. Bloom und Canning führten als eine der Hauptursachen für den irischen Boom den drastischen Anstieg des Anteils von Iren im erwerbsfähigen Alter gegenüber anderen Altersgruppen ins Feld. Dieser Anstieg war die Folge des Einbruchs der irischen Geburtenrate, welcher wiederum aus dem Beschluss von 1979 zur Legalisierung der Empfängnisverhütung resultierte. Für die Nation bestand quasi eine umgekehrte Beziehung zwischen der Befolgung der päpstlichen Anordnungen und ihrer Befähigung, sich aus der Armut zu erheben: Aus dem langsamen Niedergang der katholischen Kirche in Irland erwuchs ein Wirtschaftswunder.
Die Harvard-Demografen räumten ein, dass ihre Theorie die Entwicklungen in Irland nur zum Teil erklärte. Was dem |112| irischen Erfolg wirklich zugrunde lag, ist bis heute nicht restlos geklärt. »Es war, als würde auf einer Waldeslichtung ein Fabelwesen auftauchen«, schreibt der bekannte irische Historiker R.F. Foster, »und die Wirtschaftsexperten sind sich immer noch nicht ganz im Klaren, wie es dazu kam.« Weil die Iren nicht wussten, warum sie plötzlich so erfolgreich waren, ist vielleicht verzeihlich, dass sie auch keine Vorstellung davon hatten, wie erfolgreich sie sein sollten. Sie hatten den Sprung aus abnormer Armut in abnormen Wohlstand geschafft, ohne zwischendurch so etwas wie Normalität zu erleben. Als die Finanzmärkte Anfang des neuen Jahrtausends praktisch jedermann unbegrenzt Kredit gewährten – als ganze Nationen in das besagte dunkle Kämmerlein mit
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