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Boomerang

Boomerang

Titel: Boomerang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lewis
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Ocean Avenue in Bewegung. Er trägt keinen Helm, fährt über rote Ampeln und saust an Durchfahrt-verboten-Schildern vorbei, ohne Notiz von ihnen zu nehmen. Wenn er eine dreispurige, stark befahrene Straße überqueren will, macht er sich nicht die Mühe, einen Blick über die Schulter zu werfen, sondern streckt einfach die Hand aus und schwenkt um, in der festen Überzeugung, dass das, was hinter ihm sein mag, schon bremsen wird. Sein Rad hat mindestens zehn Gänge, aber für ihn existieren nur zwei: null und in die Pedale treten, so |200| schnell er kann. Nach noch nicht einmal einem Kilometer fährt er so schnell, dass ihm vom Gegenwind Tränen über die Wangen laufen.
    Er muss einer der Menschen mit dem weltweit höchsten Wiedererkennungseffekt sein, scheint sich aber keine Sorgen zu machen, dass ihn jemand erkennen könnte, und es erkennt ihn auch niemand. Vielleicht liegt es daran, dass Menschen, die im Morgengrauen aufstehen, um zu joggen, zu skaten oder zu walken, zu sehr mit ihrer eigenen Aktivität beschäftigt sind, um aus ihrem Trancezustand zu erwachen. Vielleicht überrumpelt er sie aber auch einfach nur. Er hat kein Gefolge im Schlepptau, nicht einmal einen Leibwächter. Sein wirtschaftspolitischer Berater David Crane und sein Medienberater Adam Mendelsohn, die mitgekommen waren, weil es lustig zu werden versprach, waren weit zurückgefallen. Jeder, der hingesehen hätte, hätte gedacht: Irgendwie sieht der Typ aus wie Arnold Schwarzenegger, aber es kann nicht Arnold sein, weil Arnold auf keinen Fall um sieben Uhr morgens allein hier auf dem Fahrrad herumdüsen und versuchen würde, sich umzubringen. Erst als wir an einer roten Ampel anhalten müssen, kommt es zu einem nennenswerten Kontakt mit der Öffentlichkeit. Eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt und gleichzeitig telefoniert, überquert vor ihm die Straße und stutzt. »O … mein … Gott«, keucht sie in ihr Telefon. »Es ist Bill Clinton!« Sie ist keine drei Meter entfernt, spricht aber weiter mit ihrem Telefon, als wäre der Mann eine Fiktion. »Ich bin hier mit Bill Clinton.«
    »Das ist einer der Typen, um die es einen Sexskandal gab«, kommentiert Arnold lächelnd.
    »Moment … warte mal«, redet die Frau in ihr Telefon. »Vielleicht ist es doch nicht Bill Clinton.«
    |201| Bevor sie ihn endgültig identifiziert hat, wird die Ampel grün und wir sind weg.
    Sein Leben setzt sich aus einer Reihe sorgsam inszenierter Erfahrungen zusammen. Er selbst gestaltet es jedoch in keiner Weise als Inszenierung. Er ist authentisch, lebendig und bereit zu improvisieren: Ich bin nicht einmal sicher, ob er selbst weiß, was er als Nächstes tun wird. Er ist nicht wirklich bescheiden, aber wenn ich sein Leben gelebt hätte, wäre ich es möglicherweise auch nicht, obwohl ich wahrscheinlich häufiger Bescheidenheit vortäuschen würde, als er das tut, was so ungefähr nie der Fall ist. Was ihn vor Selbstbefangenheit bewahrt, ist, abgesehen von seiner angeborenen Neugier, ein absoluter Mangel an selbstreflexivem Interesse. Er lebt so, wie er Fahrrad fährt: Was vor ihm liegt, ist ihm viel wichtiger als das, was hinter ihm ist. Während seiner Amtszeit hat er keine wie auch immer gearteten persönlichen Aufzeichnungen gemacht. Ich finde es erstaunlich, wenn er heute sagt, dass er nicht einmal kurze Notizen verfasst hat, anhand deren er sich später seine Erfahrungen und seine diesbezüglichen Gedanken hätte in Erinnerung rufen können. »Warum sollte man so etwas tun?«, meint er. »Das ist so, wie wenn du nach Hause kommst und sollst deiner Frau erzählen, wie dein Tag war. Ich habe gemacht, was ich machen musste, und das reicht.« Wenn er einen langen Arbeitstag als Gouverneur hinter sich gebracht hatte, wollte er im Grunde nur noch eines tun: Gewichte heben.
    Wir sind erst ein paar Kilometer gefahren, als er abschwenkt und in einen schmalen Weg gegenüber von Venice Beach abbiegt. Er erträgt mich mit Geduld; ich habe ihm Löcher in den Bauch gefragt, habe wissen wollen, wie es war, als er damals 1968 nach Amerika kam, mit wenig Geld, noch weniger Englischkenntnissen, genau genommen mit nichts als Bizeps, Trizeps, |202| Bauch- und Beinmuskeln, für die er sich nicht wirklich etwas kaufen konnte. Er hält vor einer hohen Backsteinmauer an. Sie zieht sich um ein Steinhaus, das einmal imposant gewesen sein mag, jetzt aber alt, düster und unbewohnt wirkt. Ihn interessiert nur die Mauer, und zwar, weil er sie vor dreiundvierzig Jahren gebaut

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