Borderlands
getötet?«, fragte Hendry.
»Unsere
wahrscheinlichste Vermutung«, sagte ich. »Wir wissen, dass der Ring ihrer
Mutter gehört hat. Wir wissen, sie hatte ein Foto von ihrer Mutter, auf der
diese den Ring trägt. Als Polizistin hatte sie möglicherweise Zugang zu einer
Diebesgutliste.« Ich wusste, dass das der Schwachpunkt war, aber ich fuhr
dennoch fort. »Sie hätte eine Uniform gehabt. Angela Cashell hatte offenbar
eine Affäre mit ihr. Ich tippe darauf, dass ihr klar wurde, Donaghey hatte den
Ring. Er wird gefoltert und ermordet. Wahrscheinlich hat er die Namen des- oder
derjenigen verraten, die am Knox-Mord beteiligt waren, darunter Johnny Cashell
und Seamus Boyle. Coyle freundet sich mit Cashells Tochter an, die am Ende tot
ist und den Ring trägt, den McKelvey gestohlen und, wie er behauptet, in einer
Kneipe einem Mädchen verkauft hat. Und ich vermute, unser Augenzeuge, der
gesehen hat, wie Terry Boyle mit einem Mädchen die Kneipe verlassen hat, dürfte
Coyle bestimmt auf einem Foto wiedererkennen.«
Vierzig
Minuten später kehrten die Uniformierten zurück und berichteten, keiner der
Nachbarn habe Coyle in der letzten Woche gesehen. Genauer gesagt hatte man sie
am vergangenen Dienstag zum letzten Mal gesehen; an dem Tag, an dem ich sie
besucht hatte. Eine Nachbarin erinnerte sich daran, um die Mittagszeit ein Auto
gesehen zu haben, das von der Beschreibung her meines gewesen sein könnte – abgesehen
von dem Rost, von dem sie sprach. Die Nachbarn erinnerten sich auch daran, dass
später am Abend ein blaues Auto mit einem irischen Kennzeichen vor Coyles Haus
abgestellt worden war und bis zum Morgen dort gestanden hatte. Die Zeugin hatte
das Auto nicht wegfahren sehen, doch als sie in ihrem »Sonnenzimmer« die
Sendung ›Today‹ auf Radio 4 hörte, hatte sie aus dem Fenster geschaut, und das
Auto war fort gewesen.
»Das Beste,
was wir tun können, ist, alle Polizisten im Norden wie im Süden anzuweisen,
nach ihr Ausschau zu halten«, sagte Hendry, als wir zu unseren Autos
zurückgingen. »Sie kann sich ja nicht ewig verstecken. Es sei denn, sie hat
erledigt, was sie sich vorgenommen hatte, und ist wie ihre Mutter verschwunden – in die Nacht!« Die letzten Worte sprach er in bewusst unheilsschwangerem
Tonfall, und Williams musste unwillkürlich lachen. Hendry grinste sie an, dann
blinzelte er mir zu, das Gesicht ernst und abgespannt. Ich spürte mein Handy in
der Tasche vibrieren. Im Display leuchtete Kathleen Boyles Nummer auf. Ihr
Ex-Mann war angekommen und wollte mit uns reden.
Erneut saßen wir im Wohnzimmer von Kathleen
Boyle – Seamus Boyle auf einem Stuhl, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das
Gesicht in den Händen vergraben. Der Mann wirkte am Boden zerstört. Seine
sandfarbenen, mit Grau durchzogenen Haare waren zerzaust und fielen ihm in die
Stirn. Seine Augen waren geschwollen, das Weiße blutunterlaufen; die Haut war
aschfahl und er roch nach Schweiß und Zigaretten. Das ganze Gespräch über
stotterte er und stockte immer wieder, schluckte den Schmerz herunter, der ihn
in dem Augenblick überfallen haben musste, als seine Frau ihn des Fotos wegen
zur Rede gestellt hatte – des Fotos wegen, das nun vor ihm auf dem Couchtisch
lag. Er musste geahnt haben, worum es ging, als seine Frau das Foto erwähnt
hatte. Ein Blick hatte diese Ahnung bestätigt, und alles war aus ihm
hervorgebrochen.
»Ich kann nicht … ich kann nicht glauben,
dass er nicht mehr da ist«, stotterte Boyle, die Stirn ungläubig gerunzelt. »Und alles nur
deswegen. Wegen eines idiotischen, beschissenen …« Er wandte sich von uns ab
und sah zum Fenster, den Kopf ein wenig schräg gelegt, als wollte er die Tränen
davon abhalten, ihm über die Wangen zu laufen. Mehrmals zog er lautstark die
Nase hoch und rieb sich mit den Handflächen übers Gesicht.
»Wir wissen,
wer sie ist, Mr Boyle«, sagte ich. »Aber Sie müssen uns bestätigen, was mit ihr
passiert ist.«
»Sie ist tot«,
sagte er schlicht und sah uns noch immer nicht an. »Sie ist tot und irgendwo
begraben – wo, weiß ich nicht.«
»Haben Sie sie
getötet, Mr Boyle?«, fragte Williams.
»Ich hätte es
genauso gut tun können«, sagte er und sah uns beide an. »Nach dem, was jetzt
passiert ist. Ich hätte es genauso gut tun können.«
Das war weder
eine Bestätigung noch eine Leugnung. Wir warteten schweigend, bis er sich
wieder gefasst hatte.
»Ich war es
nicht, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Aber ich wusste davon. Sie haben
es mir
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