Boris Pasternak
ist
das Genialste. Nur wirklich Großes kann so unpassend und zu so ungünstiger Zeit
kommen.«
Der Winter brach so an, wie
man ihn vorhergesagt hatte. Er war noch nicht so schrecklich wie die beiden
darauffolgenden, aber schon von ähnlicher Art, finster, hungrig und kalt,
gekennzeichnet vom Umbruch alles Gewohnten und von der Neugestaltung aller
Daseinsgrundlagen, ganz voller unmenschlicher Bemühungen, das entgleitende
Leben festzuhalten.
Drei fürchterliche Winter
folgten aufeinander, und nicht alles, was die heutige Erinnerung in den Winter
siebzehnachtzehn verlegt, geschah wirklich damals, sondern möglicherweise
später. Die drei Winter verschmolzen zu einem und waren schwer
auseinanderzuhalten.
Das alte Leben und die junge
Ordnung deckten sich noch nicht. Zwischen ihnen gab es keine wütende
Feindschaft wie ein Jahr später während des Bürgerkriegs, aber auch keine
Verbindung. Es waren zwei voneinander getrennte Seiten, die sich
gegenüberstanden und keinerlei Konsens hatten.
Überall fanden Neuwahlen der
Leitungen statt: in den Privathäusern, in den Organisationen, auf den
Arbeitsstellen und in den Dienstleistungsbetrieben. Die Zusammensetzung wurde
verändert. In sämtlichen Stellen wurden Kommissare mit unbegrenzten Vollmachten
ernannt, Menschen mit eisernem Willen, in schwarzen Lederjakken, bewaffnet mit
Abschreckungsmaßnahmen und Nagäntrevolvern, Männer, die sich selten rasierten
und noch seltener schliefen.
Sie kannten das
Kleinbürgertum, den mittleren Besitzer kleiner Staatspapiere, den
kriecherischen Spießer, und sie schonten ihn nicht, sie behandelten ihn mit
mephistophelischem Hohn wie einen ertappten kleinen Dieb.
Diese Männer nahmen alles in
die Hand, wie ihr Programm es ihnen gebot, und so wurde ein Unternehmen, eine
Vereinigung nach der anderen bolschewistisch.
Das Kreuzerhöhungs-Krankenhaus
hieß jetzt Zweites umgestaltetes Krankenhaus. Auch hier gab es Veränderungen.
Ein Teil des Personals wurde abgebaut, und viele gingen von selbst, da sie es
unvorteilhaft fanden, hier zu arbeiten. Das waren gutverdienende Ärzte, die
eine Modepraxis hatten, Hätschlinge der mondänen Welt, Schwätzer und
Schönredner. Sie versäumten nicht, ihren eigennützigen Weggang als
demonstrativ, als staatsbürgerlich motiviert hinzustellen, und sie sahen von
oben herab auf die Gebliebenen und boykottierten sie nachgerade. Zu den
letzteren gehörte Shiwago.
An den Abenden gab es zwischen
Mann und Frau Gespräche folgender Art:
»Vergiß nicht, am Mittwoch in
den Keller der Ärztegesellschaft zu kommen und die beiden Säcke gefrorene
Kartoffeln abzuholen. Ich muß noch herausfinden, zu welcher Stunde ich frei
habe, damit ich dir helfen kann. Wir nehmen den Schlitten.«
»Gut. Das wird schon klappen,
Jurotschka. Leg dich lieber hin, es ist schon spät. Alles schaffst du ohnehin
nicht. Du mußt dich ausruhen.«
»Es herrscht eine Epidemie.
Die allgemeine Unterernährung schwächt die Widerstandskraft. Dich und Vater mag
ich gar nicht ansehen. Wir müssen etwas unternehmen. Nur was? Wir geben nicht
genug acht auf uns, wir müssen umsichtiger sein. Hör zu. Schläfst du?«
»Nein.«
»Um mich habe ich keine Angst,
ich bin zäh, aber wenn ich wider Erwarten krank werde, dann sei bitte nicht
dumm und behalte mich nicht zu Hause. Sofort ins Krankenhaus.«
»Was redest du, Jurotschka!
Gott behüte. Wozu vor der Zeit unken?«
»Merke dir, es gibt keine
ehrlichen Menschen und keine Freunde mehr. Und erst recht keine, die wirklich
etwas können. Wenn etwas passiert, vertraue nur Pitschushkin. Natürlich nur,
wenn er überlebt. Schläfst du?«
»Nein.«
»Diese Halunken sind weg, weil
sie es woanders besser haben, und als Grund geben sie staatsbürgerliche Gefühle
und Prinzipientreue an. Wenn man sie trifft, reichen sie einem kaum noch die
Hand. >Sie dienen denen?< Und ziehen die Brauen hoch. >Ja<, sage
ich, >und seien Sie nicht böse, aber auf unsere Entbehrungen bin ich stolz,
und ich habe Achtung vor denen, die uns die Ehre erweisen, sie uns
aufzuerlegen.<«
Für eine lange Zeit lebten die
meisten Menschen von in Wasser gekochten Hirsegraupen und Fischsuppe aus
Heringsköpfen. Die gebratenen Heringe waren der zweite Gang. Man aß auch
ungemahlenen Roggen und Weizen. Daraus wurde Grützbrei bereitet.
Eine Bekannte von Tonja,
Gattin eines Professors, zeigte ihr, wie man in der Röhre des Kachelofens Brot
backen konnte, teilweise zum Verkauf bestimmt, damit der Gewinn zugleich die
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