Boris Pasternak
Hausbewohner waren zu dieser Stunde noch nicht auf den
Beinen. Die Mieterin Seworotkino, bei allen gemeinschaftlichen Unternehmungen
des Hauses die treibende Kraft, lief von Tür zu Tür, klopfte und rief die
Mieter aus dem Schlaf: »Aufgepaßt, Genossen! Abschiednehmen! Schnell, schnell!
Die ehemaligen Garumekows reisen ab.«
Die Hausbewohner kamen zum
Abschied in den Hausflur und auf die Treppe des Hintereingangs (die vordere
Haustür war längst zugenagelt) und drängten auf den Stufen wie in einem
Amphitheater, als stellten sie sich zu einer Gruppenaufnahme.
Gähnend standen sie da, etwas
gebückt, damit die über die Schultern geworfenen armseligen Mäntel, unter denen
sie froren, nicht herabglitten, und traten von einem Fuß auf den anderen; sie
waren in der Eile barfuß in gewaltige Filzstiefel gefahren.
Markel hatte es fertiggebracht,
sich in dieser alkohollosen Zeit mit irgendeinem mörderischen Gesöff vollaufen
zu lassen, er fiel aufs Geländer wie niedergemäht und drohte es umzureißen. Er
erbot sich, das Gepäck zum Bahnhof tragen zu helfen, und war beleidigt, als
dies zurückgewiesen wurde. Nur mühsam wurde man ihn los.
Draußen war es noch dunkel.
Der Schnee fiel in der Windstille dichter als am Abend zuvor. Die großen
zottigen Flocken sanken träge herab und schienen kurz über dem Erdboden
innezuhalten, als zauderten sie, ob sie sich niederlegen sollten oder nicht.
Als sie aus der Seitengasse
auf den Arbat kamen, wurde es ein wenig heller. Der Schneefall verhängte die
Straße mit seinem niedergleitenden weißen Schleier, dessen Fransen vor den
Füßen baumelten und sich verhedderten, so daß das Gefühl der Bewegung schwand
und sie den Eindruck hatten, auf der Stelle zu treten.
Auf der Straße war keine
Menschenseele. Den Reisenden von Siwzew Wrashek kam niemand entgegen. Bald
überholte sie, ganz verschneit, wie in dünnem Teig gewälzt, eine leere
Droschke, gezogen von einer verschneiten Mähre, und für einen märchenhaften
Geldbetrag, der aber damals keine Kopeke wert war, stiegen sie mit ihren Sachen
ein, nur Doktor Shiwago ging auf eigenen Wunsch mit leeren Händen zu Fuß zum Bahnhof.
Als er dort eintraf, standen
Tonja und ihr Vater bereits in einer endlosen Schlange, die von Holzbarrieren
zusammengepreßt war. Das Einsteigen erfolgte nicht vom Bahnsteig aus, sondern
eine gute halbe Werst weiter im Gewirr der Geleise beim Ausfahrtssignal, weil
es nicht genug Arbeitskräfte gab, um die Bahnsteige sauberzuhalten. Die Hälfte
des Bahnhofsgeländes war vereist und verschmutzt, und die Lokomotiven hielten
außerhalb.
Njuscha und Saschenka waren
nicht bei der Mutter und dem Großvater. Sie gingen draußen unter dem gewaltigen
Vordach spazieren und schauten nur ab und zu herein, ob es schon Zeit sei, sich
den Älteren anzuschließen. Beide rochen stark nach Petroleum, mit dem sie als
Schutz gegen Typhusläuse Hals, Knöchel und Handgelenke eingerieben hatten.
Als Tonja ihren Mann
herbeieilen sah, winkte sie ihm und rief ihm von weitem zu, an welcher Kasse
die Dienstreisemandate gelocht wurden. Er ging dorthin.
»Zeig mal, was für Stempel sie
dir gegeben haben«, sagte sie, als er zurückkam. Der Arzt reichte eine Handvoll
gefalteter Papiere über die Barriere.
»Das ist ein Freifahrtschein
für einen Delegiertenwaggon«, sagte ihr Hintermann, der über ihre Schulter
hinweg den Stempel betrachtete. Ihr Vordermann, einer von jenen peniblen
Rechtskundigen, die unter beliebigen Umständen sämtliche Vorschriften der Welt
kennen, erläuterte ausführlicher: »Mit diesem Stempel haben Sie das Recht,
einen Platz in einem Klassewaggon beziehungsweise einem Passagierwaggon zu
verlangen, falls der Zug einen hat.«
Die ganze Schlange mischte
sich in das Gespräch. Stimmen ertönten: »Geh doch hin und sieh nach, ob du
einen Klassewaggon findest. Vermutlich wimmelt's davon.
Heutzutage kannst du zufrieden
sein, wenn du auf dem Puffer von einem Güterwaggon hockst.«
»Hören Sie nicht auf den,
Dienstreisender. Ich will's Ihnen erklären. Gegenwärtig fahren gar keine
Personenzüge mehr, es gibt nur noch gemischte Züge aus Waggons für Soldaten und
für Häftlinge und für Vieh und für Menschen. Reden kann man viel, die Zunge ist
ein weiches Ding, aber wozu einen Menschen durcheinanderbringen; besser man
erklärt's ihm so, daß er's versteht.«
»Du weißt es wohl besser, was?
Schlauberger. Der Freifahrtschein für den Delegiertenwaggon, das ist ja nur die
eine Seite. Sieh dir erst
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