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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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schon alles verkauft hatte, und machte sich mit ihr auf
einem Trampelpfad im Schnee, der in die Ferne führte, auf den Heimweg.
    In diesem Moment entstand in
der Menge ein Tumult. Eine alte Frau schrie: »Wo willst du hin, Kavalier? Und
das Geld? Wann willst du es mir gegeben haben, du gewissenloser Kerl? Ach, der
Gierschlund, man ruft ihn, aber er geht einfach weiter und dreht sich nicht um.
Bleib stehen, sag ich dir, bleib stehen, Herr Genosse! Hilfe! Raub! Ich bin
bestohlen! Da geht er, da geht er! Haltet ihn fest!«
    »Welcher denn?«
    »Der ohne Bart, da geht er und
lacht!«
    »Der mit dem Loch im
Ellbogen?«
    »Ja doch, ja doch. Haltet ihn,
den Ungläubigen!«
    »Der mit dem Flicken auf dem
Ärmel?«
    »Ja doch, ja doch. Ach
Gottchen, ich bin bestohlen!«
    »Was ist denn hier los?«
    »Er hat von der Alten Milch
und Piroggen genommen, sich den Wanst vollgeschlagen und ist weg. Nun heult sie
und grämt sich.«
    »Das darf man nicht zulassen.
Man muß ihn festhalten.«
    »Den halt mal fest. Er ist ja
ganz mit Riemen und Patronengurten umwickelt. Er wird's dir schon zeigen.«
     
    Im vierzehnten Waggon reisten
mehrere Männer, die für die Arbeitsarmee zwangsverpflichtet worden waren. Ihr
Bewacher war der Soldat Woronjuk. Von den Männern fielen aus verschiedenen
Gründen drei besonders auf: der ehemalige Kassierer eines Petrograder
staatlichen Schnapsladens Prochor Prituljew, »Beutel«, wie sie ihn nannten, der
sechzehnjährige Wassja Brykin, Lehrling aus einer Eisenwarenhandlung, und der
grauhaarige Revolutionär und Genossenschafter Kostojed vom Amur, der sämtliche
Katorgas des alten Regimes kennengelernt hatte und nun in der neuen Zeit die
neue Reihe eröffnete.
    Alle diese
Zwangsverpflichteten waren einander fremd, waren wahllos eingefangen worden und
lernten sich nun unterwegs allmählich kennen. Bei ihren Gesprächen im Waggon
stellte sich heraus, daß der Kassierer Prituljew und der kaufmännische Lehrling
Wassja Brykin Landsleute waren, beide aus dem Wjatkaschen stammten und überdies
aus einer Gegend, die der Zug später durchfahren würde.
    Prituljew, Kleinbürger aus der
Stadt Malmysh, war ein untersetzter, pockennarbiger, abstoßender Mann mit
Igelhaarschnitt. Der unter den Achseln schwarzgeschwitzte graue Rock umspannte
ihn so eng wie das Oberteil eines Sarafans eine fleischige Frauenbüste. Er war
maulfaul wie ein Ölgötze, dachte stundenlang über irgend etwas nach und polkte
die Warzen auf seinen sommersprossigen Händen blutig, daß sie zu eitern
begannen.
    Ein Jahr zuvor war er im
Herbst den Newski Prospekt entlanggegangen und an der Ecke Litejny in eine
Straßenrazzia geraten. Bei der Prüfung seiner Dokumente zeigte sich, daß er die
Lebensmittelkarte der vierten Kategorie hatte, die für nichtwerktätige Elemente
vorgesehen war und auf die es niemals etwas gab. Darum wurde er festgehalten,
zusammen mit vielen anderen, die auf der Straße kontrolliert wurden, und unter
Bewachung in eine Kaserne gebracht. Die auf diese Weise eingesammelte Partie
Menschen sollte ebenso wie eine frühere Partie, die an der Archangelsker Front
Schützengräben geschippt hatte, ursprünglich nach Wologda verfrachtet werden,
doch sie wurde unterwegs umgeleitet und über Moskau an die Ostfront geschickt.
    Prituljew hatte eine Ehefrau
in Luga, wo er vor dem Krieg, vor seinem Dienst in Petersburg, gearbeitet
hatte. Nachdem sie auf Umwegen von seinem Unglück gehört hatte, eilte sie nach
Wologda, um ihn zu suchen und aus der Arbeitsarmee herauszuholen. Aber sie
konnte die Zwangsverpflichteten nicht finden. Ihre Bemühungen blieben
vergeblich. Alles war verwickelt.
    In Petersburg hatte Prituljew
mit einer Frau zusammengelebt, Pelageja Tjagunowa. Als er an der Straßenecke
angehalten wurde, hatten sie sich eben verabschiedet, da er in anderer Richtung
noch etwas zu erledigen hatte, und er sah unter den Fußgängern auf den Litejny
noch lange ihren Rücken, bis er verschwand.
    Diese Pelageja Tjagunowa, eine
üppige, stattliche Kleinbürgerin mit schönen Händen und dickem Zopf, den sie
mit tiefen Seufzern bald über die eine, bald über die andere Schulter auf die
Brust warf, begleitete Prituljew aus freien Stücken auf den Transport.
    Es war unbegreiflich, was die
Frauen an Prituljew fanden und was sie zu ihm hinzog. In einem anderen Waggon
des Zugs, näher zur Lokomotive, reiste eine weitere Bekannte Prituljews, die
auf rätselhafte Weise in den Zug gekommen war, ein hellblondes und mageres
Mädchen namens

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