Boris Pasternak
mal die Leute an, dann kannst du reden. Meinst du,
wer so aussieht wie die, den lassen sie in den Delegiertenwaggon? Der ist doch
voll von Landsern. Und die Seeleute haben scharfe Augen. Und einen Revolver an
der Schnur. Die sehen sofort - besitzende Klasse, noch dazu ein Arzt, ehemalige
Herrschaften. Da zieht der Matrose einfach seinen Nagant und knallt ihn ab wie
eine Fliege.«
Wer weiß, wo das Mitgefühl mit
dem Arzt und seiner Familie noch hingeführt hätte, wäre nicht ein neuer Umstand
eingetreten.
Die Menschen in der Schlange
warfen seit langem Blicke durch die breiten Bahnhofsfenster aus dickem
Spiegelglas. Die langgestreckten Überdachungen der Bahnsteige rückten das
Schauspiel des auf die Gleise rieselnden Schnees ins Endlose. Daher schien es,
als ob die Schneeflocken fast reglos in der Luft stünden und sich nur sehr
langsam setzten, so wie aufgeweichte Brotkrümel, mit denen man Fische füttert,
im Wasser untergehen.
Dort hinten zeigten sich seit
längerem einzeln und in Grüppchen Menschen. Solange sie nur wenige waren, diese
Gestalten, die sich undeutlich hinter dem flimmernden Netz des Schnees
abzeichneten, konnte man sie für Eisenbahner halten, die aus dienstlichen
Gründen über die Schwellen gingen. Aber dann kam ein ganzer Haufen auf einmal.
Da, wo sie hingingen, qualmte die Lokomotive.
»Macht die Türen auf, ihr
Gauner!« brüllte es in der Schlange. Die Menge drängte wogend gegen die Türen.
Die Hinteren schoben die Vorderen.
»Seht doch, was sich tut! Hier
ist alles verrammelt, und dort kriechen sie durch Hintertüren, ohne anzustehen!
Die Waggons sind bestimmt schon vollgestopft, und wir warten hier wie die
Hammel! Macht auf, ihr Halunken, sonst brechen wir auf! Los, Jungs, Schwung,
Druck!«
»Auf die sind sie nun
neidisch, die Blödmänner«, sagte der allwissende Rechtskundige. »Das sind doch
Zwangsmobilisierte für die Arbeitsarmee aus Petrograd. Die sollten erst nach
Norden fahren, nach Wologda, aber jetzt werden sie an die Ostfront getrieben.
Gegen ihren Willen. Unter Bewachung. Schützengräben sollen sie ausheben.«
Sie waren schon drei Tage
unterwegs, aber noch nicht weit weg von Moskau. Ein winterliches Bild bot sich
ihnen: Gleise, Felder, Wälder, Hausdächer in den Dörfern - alles war
verschneit.
Die Shiwagos hatten das Glück
gehabt, links in der Ecke auf der oberen Pritsche nahe dem trüben Fensterchen
unter der Decke Platz zu finden, so daß die Familie beisammen bleiben konnte.
Tonja reiste zum erstenmal in
einem Güterwaggon. Beim Einsteigen in Moskau hatte Juri die Frauen bis zur Höhe
des Waggonfußbodens gehoben, auf dessen Kante die schwere Schiebetür lief.
Während der Reise lernten die Frauen, ohne Hilfe hinaufzuklettern.
Die Waggons kamen Tonja in der
ersten Zeit vor wie Ställe auf Rädern. Diese Käfige mußten doch beim ersten
Stoß, bei der ersten Erschütterung auseinanderfallen. Aber schon den dritten
Tag warf es sie vor und zurück und von einer Seite auf die andere, vor allem in
den Kurven, und schon den dritten Tag ratterten die Radachsen unterm Fußboden
wie die Stöckchen eines aufziehbaren Spielzeugtrommlers. Die Reise verlief ohne
Zwischenfälle, und Tonjas Befürchtungen trafen nicht ein.
An den Stationen mit ihren
kurzen Bahnsteigen konnte der lange Zug, der aus dreiundzwanzig Waggons bestand
(die Shiwagos reisten im vierzehnten), nur teilweise anlegen, mit der Spitze,
dem Schwanz oder der Mitte.
In den vorderen Waggons fuhren
Militärangehörige, in den mittleren Privatreisende und in den hinteren die
Zwangsmobilisierten für die Arbeitsarmee.
Die Reisenden dieser letzten
Kategorie, an die fünfhundert, waren Menschen aller Altersgruppen mit den
verschiedensten Titeln und Berufen.
Die acht Waggons, in denen sie
fuhren, boten ein buntes Schauspiel. Neben gutgekleideten Reichen, Petersburger
Börsianern und Advokaten gab es der Ausbeuterklasse zugeordnete elegante
Droschkenkutscher, Bohnerer, Badewärter, tatarische Trödler, entlaufene
Geisteskranke aus den aufgelösten Irrenhäusern, Mönche und kleine Händler.
Die Bessergestellten saßen
ohne Jackett rund um die rotglühenden Kanonenöfchen auf Holzklötzen, erzählten
sich um die Wette Geschichten und lachten laut. Sie hatten Beziehungen und
verzagten nicht, denn zu Hause bemühten sich einflußreiche Verwandte für sie.
Schlimmstenfalls konnten sie sich noch während der Reise loskaufen.
Die einfacheren Leute, die
Stiefel und offene Kaftane oder lange Hemden ohne Gürtel
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