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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Ogryskowa, »Spritze« oder »Nasenloch«, wie Pelageja Tjagunowa
sie neben anderen beleidigenden Ausdrücken nannte.
    Die beiden Rivalinnen standen
auf dem Kriegsfuß und vermieden es, sich zu begegnen. Die Ogryskowa zeigte sich
nie in dem Waggon. Es blieb ein Rätsel, wie sie es fertigbrachte, sich mit
ihrem Abgott zu treffen. Vielleicht begnügte sie sich mit seinem Anblick, wenn
Holz und Kohlen verladen wurden, wobei sämtliche Reisenden mithelfen mußten.
     
    Wassja Brykins Geschichte war
ganz anders. Sein Vater war im Krieg gefallen. Seine Mutter hatte ihn vom Dorf
nach Petersburg zum Onkel in die Lehre geschickt.
    Im Winter war sein Onkel, der im
Apraxin-Hof eine Eisenwarenhandlung betrieb, zwecks einiger Auskünfte in den
Sowjet bestellt worden. Er irrte sich in der Tür und geriet in ein anderes
Zimmer. Hier saß zufällig die Aufnahmekommission für die Arbeitsverpflichteten.
Es waren viele Menschen da. Als sich genügend Vorgeladene angesammelt hatten,
kamen Rotarmisten, nahmen die Leute in die Mitte und brachten sie in die
Semjonowskije-Kasernen, wo sie übernachten mußten, und am Morgen wurden sie zum
Bahnhof eskortiert, um in den Zug nach Wologda verladen zu werden.
    Die Nachricht von der
Festnahme so vieler Menschen verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt.
Tags darauf zogen viele Angehörige zum Bahnhof, um sich zu verabschieden. Unter
ihnen waren auch Wassja und seine Tante, die den Onkel noch einmal sehen
wollten.
    Auf dem Bahnhof bat der Onkel
den Posten, ihn für einen Moment aus dem Gitter zu seiner Frau zu lassen. Der
Posten war der Soldat Woronjuk, der jetzt die Gruppe im vierzehnten Waggon
bewachte. Ohne die Gewähr, daß der Onkel zurückkehren würde, war der Soldat
dazu nicht bereit. Als Bürgen für die Rückkehr boten Onkel und Tante den Neffen
an. Woronjuk willigte ein. Wassja wurde in das abgesperrte Gelände geführt, und
der Onkel durfte hinaus. Onkel und Tante kehrten nicht zurück.
    Als sich der Betrug
herausstellte, brach der ahnungslose Wassja in Tränen aus. Er warf sich
Woronjuk zu Füßen, küßte ihm die Hände und flehte, ihn freizulassen, doch
nichts half. Der Soldat war nicht aus Grausamkeit so unerbittlich, aber es war
eine unruhige Zeit, und es wurde streng auf Ordnung gesehen. Der Begleitsoldat
haftete mit seinem Leben dafür, daß die Zahl der ihm anvertrauten Menschen, die
durch namentlichen Aufruf ermittelt worden war, auch stimmte. So war Wassja in
die Arbeitsarmee geraten.
    Der Genossenschafter Kostojed
vom Amur, der bei allen Gefängniswärtern unter der zaristischen und der
gegenwärtigen Regierung großes Ansehen genoß und mit ihnen stets auf
freundschaftlichem Fuße stand, hatte mehr als einmal den Natschalnik der
Eskorte auf Wassjas unerträgliche Lage hingewiesen. Der gab zu, daß es wirklich
schreiendes Unrecht sei, sagte aber, formelle Schwierigkeiten machten es
unmöglich, die verzwickte Geschichte unterwegs zu lösen, und sprach die
Hoffnung aus, an Ort und Stelle alles zu klären.
    Wassja war ein hübscher Junge
mit regelmäßigen Gesichtszügen, er sah so aus, wie man Zarenleibwächter und
Gottesengel auf Bildern darstellte. Wie kaum einer war er rein und unverdorben.
Sein größtes Vergnügen war, zu Füßen der Älteren am Fußboden zu hocken, die
Arme um die Knie gelegt und den Kopf erhoben, um ihren Gesprächen und
Erzählungen zu lauschen. Das Spiel seiner Gesichtsmuskeln, mit denen er
aufsteigende Tränen zurückdrängte oder ein ihn würgendes Gelächter
unterdrückte, ließ erkennen, wovon gerade gesprochen wurde. Das Gesicht des
empfänglichen Jungen reflektierte den Gesprächsgegenstand wie ein Spiegel.
     
    Der Genossenschafter Kostojed
saß als Gast oben bei den Shiwagos und knabberte schmatzend an der
Hasenschulter, die sie ihm spendiert hatten. Er fürchtete Zugluft und
Erkältung. »Wie das zieht! Wo kommt das her?« fragte er oft und setzte sich
immer wieder woanders hin, um geschützt zu sein. Wenn er meinte, einen guten
Platz gefunden zu haben, sagte er: »Jetzt ist es gut«, und nagte weiter an dem
Schulterknochen, leckte sich die Finger, wischte sie mit seinem Taschentuch ab,
bedankte sich und bemerkte: »Es kommt vom Fenster her. Wir werden es zunageln
müssen. Aber zurück zu unserm Streit. Sie haben unrecht, Doktor. Ein gebratener
Hase ist etwas Herrliches. Aber daraus zu schließen, daß es dem Dorf gut ginge,
entschuldigen Sie, das ist zumindest kühn, das ist ein sehr riskanter
Gedankensprung.«
    »Ach, hören Sie doch

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