Boris Pasternak
auf«,
widersprach Juri Shiwago. »Sehen Sie sich die Stationen an. Die Bäume sind nicht
abgesägt. Die Zäune sind heil. Und diese Märkte! Diese Bauersfrauen! Das
reinste Vergnügen, dieser Anblick! Irgendwo gibt es noch Leben. Irgendwer hat
Freude. Das rechtfertigt alles.«
»Schön, wenn's so wäre. Aber
es stimmt ja nicht. Woher wollen Sie das wissen? Fahren Sie doch mal hundert
Werst weiter weg von der Bahnstrecke. Überall und ununterbrochen
Bauernaufstände. Gegen wen, fragen Sie? Gegen die Weißen und gegen die Roten,
je nachdem, wer dort gerade herrscht. Sie werden sagen, aha, der Mushik ist ein
Feind jedweder Ordnung, und er weiß selber nicht, was er will. Entschuldigung,
freuen Sie sich nicht zu früh. Er weiß es besser als Sie, aber er will etwas
ganz anderes als wir beide.
Als die Revolution ihn
aufweckte, glaubte er, sein jahrhundertealter Traum vom Leben für sich selbst,
von der anarchischen Existenz auf dem Bauernhof durch seiner Hände Arbeit, ohne
Abhängigkeit von wem auch immer, ginge endlich in Erfüllung. Aber aus der
Bedrängnis der gestürzten alten Staatsmacht geriet er in die noch festere Zange
des neuen revolutionären Superstaates. Und nun wirft sich das Dorf hin und her
und findet keine Ruhe. Und da sagen Sie, der Bauernschaft ginge es gut. Gar
nichts wissen Sie, mein Bester, und ich sehe, Sie wollen auch nichts wissen.«
»Na und, ich will es wirklich
nicht. Völlig richtig. Gehen Sie mir doch los! Warum soll ich alles wissen und
mich um alles kümmern? Die Zeit nimmt keine Rücksicht auf mich und bürdet mir
auf, was sie will. Also möchte ich Fakten ignorieren dürfen. Sie sagen, meine Worte
stimmten nicht mit der Wirklichkeit überein. Gibt es jetzt in Rußland überhaupt
eine Wirklichkeit? Ich finde, sie ist so eingeschüchtert, daß sie sich
versteckt. Lassen Sie mich doch glauben, daß das Dorf gewonnen hat und
floriert. Wenn das ein Irrtum ist, was soll ich dann machen? Wie soll ich
leben, auf wen hören? Aber ich muß leben, ich habe Familie.«
Doktor Shiwago machte eine
wegwerfende Handbewegung, überließ es seinem Schwiegervater, den Streit mit
Kostojed zu Ende zu führen, rutschte an den Rand der Pritsche und blickte
hinunter, um zu sehen, was sich dort tat.
Dort unterhielten sich
Prituljew, Woronjuk, Tjagunowa und Wassja. Da die heimatliche Gegend
näherrückte, erzählte Prituljew von den Verkehrsmöglichkeiten, bis zu welcher
Station man fahren müsse, wo man aussteige und wie man weiterkäme, zu Fuß oder
zu Pferde. Bei der Erwähnung der wohlbekannten Flecken und Dörfer sprang
Wassja mit glühenden Augen auf und wiederholte begeistert die Namen, deren
Aufzählung für ihn wie ein Zaubermärchen klangen.
»In Suchoi Brod steigen Sie
aus?« fragte er mit überschnappender Stimme. »Aber ja! Das ist unsere Station!
Unser Bahnhof! Und dann bestimmt weiter nach Buiskoje?«
»Dann über den Feldweg nach
Buiskoje.«
»Sag ich ja, nach dem Dorf
Buiskoje. Ob ich das kenne! Da müssen wir abbiegen. Von dort zu uns immer nach
rechts, nach rechts. Nach Weretenniki.
Und zu Ihnen, Onkel Prituljew,
da geht es wohl nach links, weg vom Fluß? Den Fluß Pelga kennen Sie doch? Na
klar! Unser Fluß. Zu uns geht's immer am Ufer entlang. An diesem Fluß, ein
Stück weiter oben, liegt unser Dorf Weretenniki! Am Steilufer! Das Ufer ist
ganz steil! Wir sagen Überhang dazu. Wenn man oben steht, hat man Angst,
runterzugucken, so steil ist es. Daß man bloß nicht abstürzt. Heilig wahr. Da
wird Stein gebrochen. Für Mühlsteine. Und in Weretenniki ist meine Mutter. Und
meine beiden Schwestern. Die eine heißt Aljonka, die andere Arischka. Meine
Mutter, Tante Palascha wird sie genannt, die sieht genauso aus wie Sie,
Pelageja Nilowna, sie ist jung und hat eine weiße Haut. Onkel Woronjuk! Onkel
Woronjuk! Um Christi willen, ich flehe Sie an... Onkel Woronjuk!«
»Na was? Was plapperst du wie
ein Kuckuck: Onkel Woronjuk, Onkel Woronjuk? Meinst du, ich weiß nicht, daß ich
keine Tante bin? Was willst du, was verlangst du? Ich soll dich flitzen lassen?
Sag mir das! Du kratzt die Kurve, und ich darf Amen sagen? Mich stellen sie an
die Wand.«
Pelageja Tjagunowa blickte
verwirrt zur Seite, in die Ferne, und schwieg. Sie strich Wassja über den Kopf
und spielte nachdenklich mit seinen hellbraunen Haaren. Ab und zu gab sie dem
Jungen mit einer Kopfneigung, einem Blick, einem Lächeln zu verstehen, er solle
nicht so dumm sein, in Gegenwart aller mit Woronjuk von solchen Dingen zu
reden.
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