Boris Pasternak
Aufschrift,
deren Inhalt daraufhindeutete, daß sie in den ersten Tagen der Februarrevolution
oder kurz davor angebracht worden war:
»Die
Herren Kranken werden gebeten, vorübergehend nicht um Medikamente und
Verbandmaterial nachzusuchen. Aus gegebenem Anlaß versiegele ich die Tür, was
ich hiermit bekanntgebe. Oberfeldscher von Ust-Nemda soundso.«
Als die
letzten Schneehaufen zwischen den freigelegten Alpschnitten weggeschaufelt
worden waren, ließen sich die Gleise, die sich schnurgerade in die Ferne zogen,
frei übersehen. Rechts und links der Strecke zogen sich die Schneehügel hin,
auf ganzer Länge gerahmt von den beiden Wänden des schwarzen Waldes.
Soweit das
Auge reichte, standen Leute mit Schaufeln auf den Gleisen. Erstmalig konnten
sie einander sehen, und sie wunderten sich, wie viele sie waren.
Es wurde
bekannt, daß der Zug in wenigen Stunden abfahren würde, obwohl die Nacht vor
der Tür stand. Vor der Abfahrt gingen Doktor Shiwago und seine Frau hinaus, um
sich ein letztes Mal an der Schönheit der freigelegten Strecke zu freuen. Auf
dem Bahndamm war niemand mehr. Der Arzt und seine Frau standen da, blickten in
die Ferne, wechselten ein paar Bemerkungen und kehrten zu ihrem Waggon zurück.
Unterwegs
hörten sie das böse, überschnappende Keifen von zwei zankenden Frauen. Sie
erkannten die Stimmen der Ogryskowa und der Tjagunowa. Beide Frauen bewegten
sich in derselben Richtung wie der Arzt und seine Frau, nämlich von der
Lokomotive zum Ende des Zugs, nur auf der anderen Seite, der Bahnhofsseite, während
das Ehepaar auf der Waldseite ging. Dazwischen stand der Zug, dessen endlose
Waggonreihe sie voreinander verbarg. Die beiden Frauen waren nicht auf gleicher
Höhe mit den Shiwagos, sondern ihnen weit voraus oder weit hinter ihnen.
Die Frauen
waren in großer Erregung. Immer wieder schienen die Kräfte sie im Stich zu
lassen. Wahrscheinlich sackten sie immer wieder im Schnee ein, oder ihre Beine
gaben nach, das hörte man an ihren Stimmen, die infolge ihrer ungleichmäßigen
Gangart bald zum Geschrei anschwollen, bald zum Flüstern herabsanken.
Offensichtlich verfolgte Frau Tjagunowa die Ogryskowa und setzte, wenn sie sie
einholte, die Fäuste ein. Sie überschüttete ihre Rivalin mit erlesenen Flüchen,
die aus dem melodischen Mund einer solchen Pfauenhenne und feinen Dame
hundertmal schamloser klangen als grobe und unmusikalische Männerflüche.
»Ach, du
Schlampe, du verdrecktes Luder«, schrie die Tjagunowa. »Kaum geht man einen
Schritt, schon bist du da, fegst mit dem Rock die Erde, machst schöne Augen!
Hast du Hündin nicht genug an meinem Blödmann? Jetzt hast du's auch noch auf
die Kinderseele abgesehen, schwänzelst herum, willst den Minderjährigen verderben.«
»Aha, dann
bist du also auch Wassja seine?«
»Ich
zeig's dir gleich, von wegen Wassja seine, du Großmaul, du Pestbeule! Du kommst
mir nicht lebendig davon. Bring mich nicht so weit, daß ich die Sünde begehe!«
»Aber,
aber, du holst ja aus! Hände weg, rasendes Weib! Was willst du von mir?«
»Ich will,
daß du krepierst, du Lauseei, du räudige Katze mit schamlosen Augen!«
»Natürlich,
ich bin eine Hündin und eine Katze, selbstredend. Aber weißt du, was sie bei
uns von einer wie dir sagen? In der Gosse gezeugt, im Torweg getraut, von der
Ratte geschwängert, einen Igel geboren... Hilfe, Hilfe, gute Leute! Sie bringt
mich um, die ist gemeingefährlich, eine Verbrecherin! Helft einem Waisenkind!«
»Komm
schnell. Ich kann das nicht hören, das ist ja widerlich«, drängte Tonja ihren
Mann. »Das kann nicht gut enden.«
Plötzlich
veränderte sich alles, die Landschaft und das Wetter. Die Ebene war zu Ende,
die Strecke verlief zwischen Bergen, Hügeln und Anhöhen. Der Nordwind, der in
letzter Zeit geweht hatte, legte sich. Von Süden her roch es nach Wärme wie aus
einem Ofen.
Die Wälder
wuchsen hier stufenweise an den Bergleiten. Die Bahnstrecke führte zwischen
ihnen hindurch, und der Zug mußte immer wieder eine längere Steigung nehmen,
die dann in eine sacht abfallende Senke überging. Keuchend kroch der Zug ins
Waldesdickicht hinein und konnte sich kaum noch schleppen, wie ein alter
Förster, der Reisende durch den Wald führt, die dauernd stehenbleiben und alles
sehen wollen.
Aber es
gab nicht viel zu sehen. In der Tiefe des Waldes herrschten Schlaf und Ruhe wie
im Winter. Nur ab und zu befreiten Büsche und Bäume raschelnd ihre unteren Äste
aus dem allmählich zusammensinkenden Schnee,
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