Boris Pasternak
und es war, als würde ihnen ein
Halsband abgenommen oder der Kragen aufgeknöpft.
Juri
Shiwago wurde von Schläfrigkeit übermannt. Tagelang lag er oben auf seiner
Pritsche, schlief, wachte auf, grübelte und horchte. Aber es gab nichts zu
hören.
Während er
sich ausschlief, schmolz und zerspülte der Frühling die Schneemassen, die am
Abreisetag in Moskau und dann während der ganzen Reise gefallen waren. Drei
Tage lang hatten sie in Ust-Nemda schaufeln müssen, und noch immer bedeckten
dicke Schichten die unübersehbaren, Tausende Werst weiten Räume.
Anfangs
taute der Schnee von innen, still und verborgen. Als die Hälfte der
gigantischen Arbeit getan war, wurde es unmöglich, sie länger zu verbergen. Das
Wunder drang nach außen. Unter der eingesunkenen Schneedecke rieselte das
Wasser hervor und erhob seine Stimme. Das undurchdringliche Waldesdickicht
zuckte zusammen. Alles in ihm erwachte.
Das Wasser
hatte seine Fesseln abgeworfen. Es stürzte die Hänge hinunter, staute sich,
floß in die Weite. Bald erfüllte es das Dickicht mit Rauschen, Rauch und Dampf.
Durch den Wald schlängelten sich wahre Ströme, vom Schnee gebremst und in ihrer
Bewegung gehemmt, flössen zischend über ebene Stellen, dann wieder abwärts,
zersprühten zu Wasserstaub. Die Erde konnte die Nässe nicht mehr aufnehmen. Das
Wasser, das aus schwindelnden Höhen, beinahe aus den Wolken, herunterkam,
wurde vom Wurzelwerk der jahrhundertealten Tannen aufgesaugt, an deren Fuß sich
trocknender weißbrauner Schaum ballte, wie Bierschaum auf den Lippen von Trinkern.
Der
Frühling stieg dem Himmel zu Kopf wie ein Rausch, und er trübte sich vor
Benommenheit und hüllte sich in Wolken. Über dem Wald schwebte niedrig
filzartiges Gewölk mit hängenden Rändern, von denen warme, nach Erde und
Schweiß riechende Sturzregen niederprasselten, die die letzten Stücke des
löchrigen schwarzen Eispanzers von der Erde wuschen.
Doktor
Shiwago erwachte, reckte sich zu der Fensterluke, aus der der Rahmen entfernt
worden war, stützte den Ellbogen auf und horchte.
Je näher
sie der Bergbauregion kamen, desto dichter war die Gegend besiedelt und desto
kürzer wurden die Strecken zwischen den einzelnen Stationen. Die Reisenden
wechselten öfter als sonst. Auf den kleinen Zwischenstationen stiegen mehr
Leute zu und aus. Da ihre Reisen kurz waren, ließen sie sich nicht häuslich
nieder, legten sich auch nicht schlafen, sondern setzten sich nachts in die
Nähe der Tür und unterhielten sich halblaut über örtliche Angelegenheiten, die
nur ihnen verständlich waren, und stiegen dann auf der nächsten Station oder
Ausweichstelle aus.
Aus den
Gesprächen der Reisenden, die in den letzten drei Tagen mitgefahren waren, zog
Doktor Shiwago den Schluß, daß die Weißen im Norden das Übergewicht gewannen
und Jurjatin entweder schon genommen hatten oder kurz vor der Einnahme standen.
Außerdem, wenn das nicht ein Gerücht war oder es sich nicht um einen Namensvetter
seines Kameraden aus dem Lazarett in Meljusejew handelte, wurden die Weißen von
dem ihm wohlbekannten Galiullin befehligt.
Der Arzt
sagte seinen Leuten von alldem kein Wort, um sie nicht unnötig zu beunruhigen,
ehe sich die Gerüchte bestätigten.
Juri
Shiwago erwachte zu Beginn der Nacht von einem undeutlichen Glücksgefühl, das
jedoch so stark war, daß es ihn aufgeweckt hatte. Der Zug hielt auf einer
Station. Sie war umgeben von dem gläsernen Dämmerlicht der weißen Nacht. Die
helle Finsternis war von etwas Feinem und Mächtigen durchdrungen, das von der
Weite und Offenheit der Gegend zeugte. Es weckte den Eindruck, daß die Station
auf einer Anhöhe lag und einen freien Ausblick bot.
Über den
Bahnsteig gingen leise plaudernd mit unhörbaren Schritten Schatten am Waggon
vorüber. Auch dies rührte den Arzt. In der Behutsamkeit der Schritte und
Stimmen spürte er Achtung vor der nächtlichen Stunde und Sorge um die
schlafenden Fahrgäste, wie es in alten Zeiten, vor dem Krieg, hätte sein
können.
Er
täuschte sich. Auf dem Bahnsteig war Stimmengewirr und Stiefelgepolter wie
überall. Aber in der Nähe befand sich ein Wasserfall, der die Grenzen der
weißen Nacht mit einem Hauch von Frische und Freiheit erweiterte. Er war es,
der dem Arzt im Schlaf das Glücksgefühl eingeflößt hatte. Das unablässige
Rauschen des stürzenden Wassers übertönte alle anderen Laute auf der Station
und erweckte den trügerischen Anschein von Stille.
Doktor
Shiwago, der von dem Wasserfall
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