Boris Pasternak
lausigen Leute warten? Was Sie
sich so denken!< Und beide, verstehst du, überschütten Kostojed mit
Vorwürfen. Wie er, ein Genossenschafter, ein Mensch mit Verstand, habe zusehen
können, wie der Soldat abgehauen ist, anstatt diesen unwissenden Menschen ohne
Bewußtsein von dem verhängnisvollen Schritt abzuhalten. >Und Sie wollen
Volkstümler sein<, haben sie gesagt. >Na, Kostojed ist ihnen natürlich
nichts schuldig geblieben, interessant<, hat er gesagt. >Sie meinen also,
der Häftling soll auf seinen Bewacher aufpassen? Das wäre ja so, wie wenn ein
Huhn wie ein Hahn kräht.< Ich habe dich angestoßen, an der Schulter
gerüttelt. >Jura<, hab ich gerufen, >steh auf, es sind welche
abgehauen<, doch woher! Dich hätte man nicht mal mit einer Kanone wach
bekommen. Aber entschuldige, davon später. Einstweilen... Mein Gott! Vater,
Jura, seht doch nur, wie schön!«
Vor der
Fensteröffnung, bei der sie mit gerecktem Hals lagen, breitete sich eine Ebene,
bis zum Horizont vom Hochwasser überflutet. Irgendwo war ein Fluß über die Ufer
getreten, und das Wasser eines Seitenarms reichte bis an den Bahndamm. Durch
den eingeschränkten Blickwinkel aus dem hohen Fenster schien es, daß der Zug
direkt durchs Wasser glitt.
Die
Wasserfläche war an einigen Stellen von stahlblauer Farbe. Ansonsten wimmelte
sie an diesem heißen Morgen von ölig spiegelnden Lichtflecken, wie sie eine
Köchin mit einer in Butter getunkten Feder auf die Kruste einer heißen Pirogge
tupft.
In dieser
scheinbar grenzenlosen Wasserwüste waren außer den Wiesen, Senken und
Sträuchern auch weiße Wolkensäulen untergegangen, die wie Pfähle bis zum Grund
reichten.
Irgendwo
in der Mitte der Wasserfläche war ein schmaler Streifen Land zu sehen, dessen
gespiegelte Bäume doppelt zwischen Himmel und Erde schwebten.
»Enten!
Mit Kücken!« rief Professor Gromeko und blickte in die Richtung.
»Wo?«
»Bei der
Insel. Nicht da, weiter rechts. Ach, verdammt, nun fliegen sie weg, wir haben
sie aufgescheucht.«
»Ach ja,
ich sehe. Ich muß etwas mit Ihnen besprechen, Alexander Alexandrowitsch. Ein
andermal. Aber die Damen und die Arbeitsarmisten, ich finde es großartig, daß
sie abgehauen sind. Und ich denke doch, friedlich, ohne jemandem Böses zu tun.
Sie sind einfach weggelaufen wie fließendes Wasser.«
Die weiße
Nacht des Nordens ging zu Ende. Alles war zu sehen, glich aber mehr einer
Einbildung: Berg, Wald, Schlucht.
Der Wald
begann erst zu grünen. Ein paar Faulbaumbüsche darin blühten bereits. Der Wald
stand unterhalb eines Berges auf einer Fläche, die ein Stück weiter in eine
Schlucht abfiel.
In der
Nähe befand sich der Wasserfall. Er war nicht von überall zu sehen, nur von
jenseits des Waldes, vom Rande der Schlucht. Wassja Brykin war es schon müde,
dorthin zu gehen und die Mischung von Grauen und Begeisterung zu erleben.
Der
Wasserfall hatte in weiter Umgebung nichts, was sich mit ihm vergleichen ließ.
Er flößte Angst ein in dieser Einzigartigkeit, die ihn in ein lebendiges,
denkfähiges Wesen verwandelte, in einen Märchendrachen oder Lindwurm, der die
Gegend verheerte und Tribut von ihr forderte.
Auf halber
Höhe stürzte der Wasserfall auf eine Felsnase und teilte sich. Die obere
Wassersäule schien erstarrt, die beiden unteren Säulen aber bewegten sich unentwegt
und wallten hin und her, als ob der Wasserfall fortwährend ausrutschte und sich
wieder aufrichtete und bei allem Taumeln doch immer auf den Beinen blieb.
Wassja lag
am Waldrand auf seinem Fellmantel. Als es hell wurde, kam vom Berg mit schwerem
Flügelschlag ein großer Vogel geflogen, zog einen eleganten Kreis über dem Wald
und setzte sich auf den Wipfel einer Tanne, nahe der Stelle, wo Wassja lag. Er
hob den Kopf, sah die dunkelblaue Kehle und die graue und hellblaue Brust der
Blaurake und flüsterte verzaubert: »Ronsha« - so hieß der Vogel im Ural. Dann
erhob er sich, nahm den Fellmantel, warf ihn über die Schultern und ging über
die Lichtung zu seiner Begleiterin. Er sagte: »Gehen wir, Tante. Sie klappern
ja mit den Zähnen vor Kälte. Warum gucken Sie so erschrocken? Ich sag Ihnen in
menschlicher Sprache, wir müssen gehen. In unserer Lage müssen wir uns an die
Dörfer halten. Die Dörfler tun ihresgleichen nichts zuleide, die helfen. Wenn
wir so weitermachen, zwei Tage nichts im Magen, sterben wir vor Hunger. Onkel
Woronjuk hat bestimmt mächtigen Lärm geschlagen und ist losgelaufen, um uns zu
suchen. Wir müssen weg, Tante Pelageja,
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