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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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gesehen, daß sie abgestumpft sind?
    Da er
nichts zu tun hatte, blickte er zu den Fenstern gegenüber.
     
    Vor dem
Zug zogen sich auf dieser Seite die Gleise bis zur Station Raswilje, die in der
gleichnamigen Vorstadt auf einer Anhöhe lag.
    Von den
Gleisen führte eine rohe Holztreppe mit drei Absätzen hinauf zur Station.
    Die Gleise
waren an dieser Stelle ein großer Lokomotivenfriedhof. Alte Lokomotiven ohne
Tender, mit Schornsteinen in Form einer Tasse oder eines Stiefelschafts standen
dicht an dicht inmitten von Waggontrümmern.
    Der
Lokomotivenfriedhof hier unten und der Friedhof der Vorstadt, das verbogene
Eisen auf den Gleisen und die rostigen Dächer und Aushängeschilder der Vorstadt
vereinigten sich zu einem Bild von Verlassenheit und Verwahrlosung unter dem
weißen Himmel, der von der Morgenhitze verbrüht war.
    In Moskau
hatte Shiwago schon vergessen, wie viele Firmenschilder es in Städten geben
konnte und was für einen großen Teil der Fassaden sie verdeckten. Die hiesigen
Schilder erinnerten ihn daran. Die Hälfte der Aufschriften war in so großen
Buchstaben gehalten, daß sie vom Zug aus zu lesen waren. Sie hingen so tief auf
die schiefen Fensterchen der verzogenen ebenerdigen Häuser herab, daß die
darunter verschwanden wie der Kopf eines Bauernkindes unter der aufgestülpten
väterlichen Schirmmütze.
    Der Nebel
hatte sich schon ganz aufgelöst. Reste verhängten nur noch die linke Seite des
Himmels, weit im Osten. Aber nun kamen sie in Bewegung und gingen auseinander
wie ein Theatervorhang.
    Dort, wohl
drei Werst von Raswilje entfernt, auf einem Berg, der höher war als die
Vorstadt, zeigte sich eine große Stadt, Zentrum eines Bezirks oder
Gouvernements. Die Sonne färbte sie gelblich, die Entfernung vereinfachte ihre
Konturen. Sie klebte terrassenförmig an der Anhöhe und sah aus wie der Berg
Athos oder wie eine Einsiedelei von Wüstenbewohnern auf einem billigen
Holzschnitt, Haus über Haus und Straße über Straße, und auf dem höchsten Platz
eine große Kathedrale.
    Jurjatin!
dachte Juri Shiwago aufgeregt. Die Erinnerungen der verstorbenen Anna Iwanowna
und häufig erwähnt von Schwester Antipowa! Wie oft habe ich von den beiden
Frauen den Namen der Stadt gehört, und unter was für Umständen sehe ich sie zum
erstenmal!
    In diesem
Moment wurde die Aufmerksamkeit der Offiziere, die sich über die Schreibmaschine
beugten, von etwas vor dem Fenster angezogen. Sie wandten den Kopf dorthin.
Der Arzt folgte ihrem Blick.
    Auf der
Treppe zur Station wurden mehrere Festgenommene oder Verhaftete abgeführt,
unter ihnen ein kopfverletzter Gymnasiast. Er war schon verbunden, doch unter
der Binde hervor sickerte Blut, das er mit der Hand in dem sonnengebräunten,
schweißigen Gesicht verschmierte.
    Der
Gymnasiast zwischen den beiden Rotarmisten, die den Zug beschlossen, erregte
Aufmerksamkeit durch sein resolutes schönes Gesicht und durch seine Jugend, die
Mitleid wecken mußte. Er und seine Begleiter zogen aber auch durch die
Sinnlosigkeit ihres Tuns die Blicke auf sich.
    Von seinem
verbundenen Kopf drohte fortwährend die Schirmmütze herunterzufallen. Statt sie
nun abzunehmen und in der Hand zu tragen, zog er sie immer wieder zurecht, was
der verbundenen Wunde nicht gut bekam, und die beiden Rotarmisten halfen ihm
bereitwillig.
    Diese
Absurdität, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderlief, hatte etwas
Symbolhaftes. Am liebsten wäre der Arzt hingelaufen, um den Gymnasiasten anzusprechen.
Er wollte ihm und den Leuten im Waggon zurufen, daß es nicht auf die
Formentreue ankam, sondern auf die Befreiung von den Formen.
    Er blickte
zur Seite. Mitten im Waggon stand Strelnikow, der soeben mit schnellen,
energischen Schritten eingetreten war.
    Wie kam
es, daß Juri Shiwago noch nie eine so ausgeprägte Persönlichkeit kennengelernt
hatte wie diesen Mann? Warum hatte das Leben sie noch nicht zusammengeführt?
Warum hatten sich ihre Wege nie gekreuzt?
    Ihm war
sofort klar, daß dieser Mann vollendete Willenskraft verkörperte. Er war in
solchem Grade derjenige, der er sein wollte, daß alles an ihm und in ihm
mustergültig erschien: der gutgeformte und schön gehaltene Kopf, die
Schnelligkeit seines Schritts, die langen Beine in den hohen Stiefeln, die
vielleicht schmutzig waren, aber geputzt wirkten, und die Feldbluse aus grauem
Tuch, die vielleicht zerdrückt war, aber den Eindruck geplätteten Leinens
hervorbrachte.
    So wirkte
dieser Mann mit seiner Begabung, die natürlich war und nichts

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