Boris Pasternak
ein paar Worten läßt sich
das nicht sagen. Gestatten Sie mir, mich ohne Erklärungen zu entfernen, wenn
ich wirklich frei bin, und wenn nicht, verfügen Sie über mich. Ich habe mich
vor Ihnen nicht zu rechtfertigen.«
Ein
Schrillen unterbrach das Gespräch. Die Telefonverbindung war hergestellt.
»Danke,
Gurjan«, sagte Strelnikow, nahm den Hörer ab und pustete ein paarmal hinein.
»Mein Lieber, schicken Sie mir jemanden rein, der den Genossen Shiwago begleitet.
Daß mir so was nicht wieder vorkommt. Und dann geben Sie mir die Raswiljer
Eisenbahn-Tscheka.«
Allein
geblieben, telefonierte Strelnikow mit dem Bahnhof: »Hier wurde ein Junge
vorbeigeführt, der zerrt sich immer wieder die Mütze auf die Ohren, dabei ist
sein Kopf verbunden, so ein Unsinn. Ja. Gebt ihm medizinische Hilfe, wenn
nötig. Ja, und daß ihr ihn mir wie euern Augapfel hütet, Sie persönlich sind
mir für ihn verantwortlich. Was zu essen, wenn nötig. So. Und nun zur Sache.
Ich sage, ich bin noch nicht fertig. Ach, verdammt, da hängt ein Dritter in der
Leitung. Gurjan! Gurjan! Trenne uns.«
Vielleicht
ein früherer Schüler von mir, dachte Strelnikow und wartete darauf, sein
Gespräch mit dem Bahnhof beenden zu können. Jetzt ist er groß und meutert gegen
uns. Er addierte in Gedanken die Jahre seiner Arbeit als Lehrer, dazu Krieg und
Gefangenschaft, ob die Summe mit dem Alter des Jungen übereinstimmen konnte.
Später suchte er durch das Waggonfenster in dem Panorama am Horizont die Stelle
am Fluß, am Stadtrand von Jurjatin, wo seine Wohnung war. Ob Frau und Tochter
noch dort sind? Ich müßte mal hin! Jetzt gleich, auf der Stelle! Ja, aber geht
das überhaupt? Das ist ja ein ganz anderes Leben. Erst muß ich das neue Leben
vollenden, ehe ich zu dem unterbrochenen zurückkehre. Irgendwann, irgendwann
wird das sein. Ja, aber wann, wann?
Zweites
Buch
Achter Teil
Die Ankunft
Der Zug,
der die Familie Shiwago bis hierher gebracht hatte, stand noch auf den hinteren
Gleisen der Station und war von anderen Zügen eingeschlossen, aber man spürte,
daß die Verbindung mit Moskau, die die ganze Reise über fortgedauert hatte, an
diesem Morgen abgerissen war.
Hier
begann ein anderer Territorialgürtel, eine andere Welt, eine Provinz mit einem
eigenen Anziehungszentrum.
Die Leute
hier kannten einander besser als die Hauptstädter. Obwohl das Bahngelände
Jurjatin-Raswilje von Unbefugten gesäubert und von roten Truppen umstellt war,
gelangten ortsansässige Reisende unbegreiflicherweise zu den Gleisen, sie
»sickerten durch«, wie man jetzt sagte. Sie hatten sich schon in die Waggons
gedrängt, füllten die Türöffnungen, gingen über die Gleise am Zug entlang oder
standen bei den Türen ihrer Waggons.
Diese
Leute kannten sich durchweg, sie wechselten Zurufe und begrüßten sich, wenn
sie zusammentrafen. Sie kleideten sich und sprachen etwas anders als in den
Hauptstädten, aßen nicht das gleiche und hatten andere Gewohnheiten.
Juri
Shiwago hätte gern gewußt, wovon sie lebten, von was für sittlichen und
materiellen Vorräten sie zehrten, wie sie mit den Schwierigkeiten fertig
wurden, wie sie die Gesetze umgingen.
Die
Antwort kam in sehr lebendiger Form.
In
Begleitung des Postens, der sein Gewehr hinter sich herschleifte und sich ab
und zu darauf stützte wie auf einen Stock, kehrte Doktor Shiwago zu seinem Zug
zurück.
Es war
glühend heiß. Die Sonne heizte die Schienen und die Waggondächer. Die
ölschwarze Erde brannte in einem gelben Schimmer, als wäre sie vergoldet.
Der Posten
furchte mit dem Gewehr die Erde und hinterließ eine Spur. Der Kolben stieß
klappernd gegen die Schwellen. Er sagte: »Das Wetter hält sich. Jetzt muß das
Sommergetreide in die Erde, Hafer, Weizen oder, wollen mal sagen, Hirse, es ist
die beste Zeit. Für Buchweizen ist es noch zu früh. Der wird bei uns Mitte Juni
gesät, am Akulina-Tag. Ich bin aus Morschansk, Gouvernement Tambow, nicht von
hier. Ach, Genosse Doktor! Wenn jetzt nicht diese Hydra von Bürgerkrieg war,
diese Pest von Kontras, würd ich mich etwa in dieser Zeit in der Fremde
herumtreiben? Der Klassenkampf ist uns wie eine schwarze Katze über den Weg
gelaufen, und nun haben wir die Bescherung!«
»Danke.
Ich kann schon selber«, sagte Shiwago, als sich ihm aus dem Güterwaggon Hände
entgegenstreckten, um ihn hinaufzuziehen. Er stemmte sich hoch, war mit einem
Sprung im Waggon, richtete sich auf und umarmte seine Frau.
»Na
endlich, Gott sei Dank, daß alles
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