Boris Pasternak
neue, unmittelbar
militärische, strategische und operative Aufgaben. Seine Aktivitäten machten
sich sofort bezahlt.
Strelnikow
wußte, daß der Volksmund ihm den Namen Rasstrelnikow* [* Abgeleitet von
rasstrelit (erschießen)] gegeben hatte. Das überging er gelassen, er fürchtete
nichts.
Er war aus
Moskau gebürtig, Sohn eines Arbeiters, der neunzehnhundertfünf an der
Revolution teilgenommen und dafür gebüßt hatte. Er selbst stand in jenen Jahren
der revolutionären Bewegung fern, weil er noch zu jung war, ebenso später, als
er an der Universität studierte, weil die jungen Leute aus dem Armenmilieu,
wenn sie studieren durften, dies mehr zu schätzen wußten und eifriger lernten
als die Kinder von Reichen. Das Brodeln in der gutversorgten Studentenschaft
berührte ihn nicht. Er verließ die Universität mit gewaltigem Wissen. Seine
historisch-philosophische Bildung hatte er aus eigener Kraft durch ein
Mathematikstudium ergänzt.
Gesetzlich
war er nicht verpflichtet, zur Armee zu gehen, aber er meldete sich freiwillig
in den Krieg, wurde im Range eines Fähnrichs gefangengenommen und floh Ende
neunzehnhundertsiebzehn in die Heimat, nachdem er erfahren hatte, daß in
Rußland Revolution war.
Zwei
Charakterzüge, zwei Leidenschaften zeichneten ihn aus.
Sein
Denken war ungewöhnlich klar und richtig. Er besaß in seltenem Maße die Gabe
der sittlichen Reinheit und Gerechtigkeit, und sein Fühlen war heiß und
edelmütig.
Aber für
die Arbeit des Wissenschaftlers, der neue Wege bahnen möchte, fehlte ihm die
Gabe des Unverhofften, jene Kraft, die durch unvorhergesehene Entdeckungen die
unfruchtbare Glattheit des leeren Vorhergesehenen zerstört.
Und um
Gutes zu tun, fehlte ihm bei seiner Prinzipienfestigkeit die
Prinzipienlosigkeit des Herzens, die keine allgemeinen Fälle, sondern nur
Einzelfälle kennt und dadurch groß ist, daß sie das Kleine tut.
Strelnikow
hatte schon als Kind das Höchste und Reinste angestrebt. Für ihn war das Leben
ein gewaltiger Kampfplatz, auf dem die Menschen unter ehrlicher Einhaltung der
Regeln um die Erreichung von Vollkommenheit wetteifern.
Als er
erkannte, daß dem nicht so war, kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er unrecht
haben könnte, wenn er die Weltordnung vereinfachte. Er verdrängte die Kränkung
darüber für lange Zeit und hegte den Gedanken, irgendwann einmal Richter zu
werden zwischen dem Leben und den dunklen Kräften, die es verdarben, zu seinem
Schutz anzutreten und Beschädigungen zu ahnden.
Die
Enttäuschung machte ihn hart. Die Revolution gab ihm die Waffen.
»Shiwago,
Shiwago«, sagte Strelnikow wieder vor sich hin, als sie in seinem Waggon waren.
»Klingt nach Kaufmann. Oder nach Adel. Ja richtig: Arzt aus Moskau. Nach
Warykino. Merkwürdig. Von Moskau in solch einen Krähwinkel.«
»Eben
drum. Ich suche die Stille, die Einöde, das Unbekanntsein.«
»Was Sie
nicht sagen, wie poetisch. Warykino? Ich kenne die Gegend. Die ehemaligen Werke
der Krügers. Wohl verwandt mit denen? Erben?«
»Warum der
spöttische Ton? Warum Erben? Obwohl meine Frau wirklich... «
»Ah, sehen
Sie. Sie wollen zu den Weißen? Ich muß Sie enttäuschen. Sie kommen zu spät. Der
Bezirk ist gesäubert.«
»Sie
spotten noch immer?«
»Und dann
Arzt. Militärarzt. Wir haben Krieg. Das geht mich schon direkt etwas an.
Deserteur. Die Grünen ziehen sich auch in die Wälder zurück. Suchen die Stille.
Ihre Rechtfertigung?«
»Zweimal
verwundet und als untauglich entlassen.«
»Gleich
werden Sie mir eine Bescheinigung vom Volkskommissariat für Volksbildung oder
für Gesundheitswesen vorlegen, die Sie als >durchaus sowjetischen Menschen^
als >Sympathisanten< empfiehlt und Ihnen >Loyalität< attestiert.
Wir haben jetzt das Jüngste Gericht auf Erden, mein lieber Herr, da sind Wesen
aus der Apokalypse mit Schwertern und geflügelte Bestien gefragt und nicht
durchaus Sympathisierende und loyale Ärzte. Im übrigen habe ich Ihnen gesagt,
Sie sind frei, und ich halte Wort. Aber nur diesmal. Ich habe das Gefühl, wir
begegnen uns wieder, und dann gibt es ein anderes Gespräch, also hüten Sie
sich.«
Drohung
und Herausforderung brachten Doktor Shiwago nicht in Verwirrung. Er sagte: »Ich
weiß, was Sie von mir denken. Von Ihrem Standpunkt aus haben Sie sogar recht.
Aber den Streit, den Sie mir aufzwingen wollen, führe ich in Gedanken schon
mein Leben lang mit einem imaginären Ankläger, und man sollte meinen, ich hätte
Zeit genug gehabt, zu einem Schluß zu gelangen. Mit
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