Boris Pasternak
herab die Peitsche übers Kreuz ziehen
dürfe.
»Wie können Sie denn nur,
Mutter! Ich bin doch kein Kosakenoffizier und kein Gendarmenscheich.«
Wedenjapin stand am Fenster,
als die Menschen gelaufen kamen. Er begriff, daß es Demonstranten waren, und
blickte eine Zeitlang aufmerksam hin, ob er unter ihnen Jura oder sonst
jemanden sähe. Aber es waren keine Bekannten dabei, nur einmal glaubte er in
einem der Fliehenden einen Mann zu erkennen (er hatte den Namen vergessen), den
Sohn von Dudorow, diesen verrückten Kerl, dem sie vor noch gar nicht langer
Zeit eine Kugel aus der linken Schulter entfernt hatten und der sich schon
wieder herumtrieb, wo er nichts zu suchen hatte.
Wedenjapin war im Herbst aus
Petersburg gekommen. In Moskau hatte er keine eigene Bleibe, und im Hotel
mochte er nicht wohnen. Darum war er bei entfernten Verwandten abgestiegen, den
Swentizkis. Sie hatten ihm das obere Eckzimmer überlassen.
Das zweigeschossige Haus, zu
groß für das kinderlose Ehepaar Swentizki, hatten die verstorbenen Eltern
Swentizki vor undenklichen Zeiten von den Fürsten Dolgoruki angemietet. Der
Besitz der Dolgorukis mit den drei Höfen, dem Park und den unordentlich
verstreuten zahlreichen Bauten verschiedener Stile grenzte an drei Gassen und
wurde auf alte Art »Mehlstädtchen« genannt.
Das Eckzimmer war etwas
dunkel, obwohl es vier Fenster hatte. Es war vollgestopft mit Büchern,
Papieren, Teppichen und Stichen, und es hatte einen Balkon, der halbrund die
Hausecke umschloß. An der doppelten Glastür waren für den Winter alle Ritzen
dicht verklebt.
Von zwei Fenstern und der
Balkontür aus war die Gasse in ganzer Länge zu sehen, sie führte, von Schlitten
zerfahren, zwischen schiefen Häuschen und Zäunen in die Ferne.
Vom Park zogen lila Schatten
herein. Die Bäume blickten mit einer Miene ins Zimmer, als wollten sie ihre
dickbereiften Zweige, die fliederblauen Strömen erstarrten Stearins glichen,
auf den Fußboden legen.
Wedenjapin blickte auf die
Gasse hinunter und dachte an den vergangenen Winter in Petersburg, an Gapon und
Gorki, an den Besuch Wittes, an die gegenwärtigen Modeschriftsteller. Aus
diesem Gewimmel war er hierher geflohen, in die Stille der Residenz, um sein
geplantes Buch zu schreiben. Aber woher! Er war vom Regen in die Traufe
geraten. Jeden Tag Vorlesungen und Vorträge, man ließ ihn nicht zur Besinnung
kommen. Mal sprach er vor Abendschülerinnen, mal im Institut für Religion und
Philosophie, dann wieder beim Roten Kreuz oder vor dem Streikkomitee. In die
Schweiz hätte er fahren sollen, in die Abgelegenheit eines Waldkantons.
Friedliche klare Luft über dem See, Himmel und Berge, hellhörige, klingende
Luft, in der jeder Laut widerhallte.
Wedenjapin wandte sich vom
Fenster ab. Am liebsten hätte er einen Besuch gemacht oder wäre ziellos
spazierengegangen. Aber ihm fiel ein, daß der Tolstoianer Wywolotschnow mit
einem Anliegen zu ihm kommen wollte, darum durfte er nicht weg. Er wanderte im
Zimmer auf und ab. Seine Gedanken kreisten um den Neffen.
Auf der Reise aus dem Krähwinkel
an der Wolga nach Petersburg hatte er Jura in den Moskauer Kreis der Verwandten
eingeführt - bei den Familien Wedenjapin, Ostromyslenski, Seljawin, Michaelis,
Swentizki und Gromeko. Anfangs war Jura bei dem liederlichen alten Schwätzer
Ostromyslenski untergebracht, den die Verwandtschaft schlicht mit Fedka
anredete. Fedka lebte heimlich mit seiner Schülerin Motja zusammen und hielt
sich darum für einen Rebellen wider moralische Grundbegriffe und für den
Verfechter einer Idee. Er enttäuschte das in ihn gesetzte Vertrauen und erwies
sich sogar als unehrlich, da er Mittel für sich verbrauchte, die für Juras
Unterhalt bestimmt waren. Darauf kam Jura zu der Professorenfamilie Gromeko, wo
er auch jetzt noch wohnte.
Bei den Gromekos umgab Jura
eine beneidenswert angenehme Atmosphäre.
Sie leben dort im Triumvirat,
dachte Wedenjapin:
Jura, sein Freund und
Klassenkamerad Mischa Gordon und die Tochter des Hauses Tonja. Dieser
Dreierbund hat immer wieder den »Sinn der Liebe« und die »Kreutzersonate«
gelesen und ist ganz vernarrt in die Keuschheitspredigt.
Die heranwachsende Jugend muß
den Drang nach Reinheit erlebt haben. Die drei aber tun des Guten zuviel und
verlieren darüber den Verstand.
Wie schrecklich sonderbar
diese Kinder sind! Die Sinnlichkeit, die sie so erregt, nennen sie aus
irgendwelchen Gründen »abgeschmackt«, und sie benutzen diesen Ausdruck passend
und auch unpassend. Eine
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