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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Wunsch ermüdete, ihm
zu folgen. Jedes seiner Worte war von Beifallsgeschrei begleitet. Niemand
bedauerte, daß seine Rede im Lärm der Zustimmung unterging. Man war schon aus
Ungeduld mit ihm einverstanden, man rief »Schande«, man setzte ein
Protesttelegramm auf, und plötzlich, als alle seiner eintönigen Stimme
überdrüssig waren, standen sie wie ein Mann auf, vergaßen den Redner, stiegen
Mütze an Mütze, Reihe hinter Reihe die Treppe hinunter und strömten auf die
Straße. Die Demonstration ging weiter.
    Während des Meetings war
draußen Schnee gefallen. Die Straße war weiß. Es schneite immer dichter.
    Als die Dragoner
heransprengten, ahnten die hinteren Reihen zunächst nichts davon. Plötzlich
drang von vorn ein anschwellender Lärm zu ihnen, wie wenn eine Menge »Hurra«
schreit. Rufe wie »Hilfe«, »Mörder« und viele andere vereinigten sich zu einem
undefinierbaren Gebrüll. Fast im gleichen Moment rasten auf dieser
Geräuschwelle durch die schmale Gasse in der auseinanderprallenden Menge lautlos
Pferdemäuler und -mähnen und säbelschwingende Reiter.
    Der halbe Zug Dragoner ritt
bis zum Ende, machte kehrt, formierte sich neu und keilte sich von hinten in
die Demonstration. Das Zuschlagen begann.
    Ein paar Minuten später war
die Straße fast leer. Die Menschen waren in die Seitengassen geflüchtet. Der
Schnee fiel spärlicher. Der Abend war so trocken wie eine Kohlezeichnung.
Plötzlich stieß die irgendwo jenseits der Häuser niedersinkende Sonne hinter
einer Ecke hervor, wie mit einem Finger auf alles Rote in der Straße zeigend:
die roten Mützendeckel der Dragoner, ein am Boden liegendes Fahnentuch,
Blutspuren, die sich als rote Fäden und Punkte im Schnee abzeichneten.
    Den Straßenrand entlang kroch
auf allen vieren ein stöhnender Mann mit gespaltenem Schädel. Von unten kamen
im Schritt mehrere Berittene. Sie kehrten vom Ende der Straße zurück, wohin die
Verfolgung sie geführt hatte. Beinah vor ihren Füßen hastete Marfa Tiwersina
mit nach hinten verrutschtem Tuch hin und her und schrie, daß es die Straße entlang
gellte: »Pawluscha! Pawluscha!«
    Er war die ganze Zeit neben
ihr gewesen und hatte sie unterhalten, indem er sehr kunstvoll den letzten
Redner nachahmte, doch als die Dragoner anstürmten, war er plötzlich in dem
Getümmel verschwunden. In dem Durcheinander bekam Marfa Tiwersina einen
Peitschenhieb über den Rücken, und obwohl sie wegen der dickgefütterten
Wattejacke nichts davon spürte, drohte sie schimpfend den Davonreitenden mit
der Faust, empört darüber, daß man es gewagt hatte, sie alte Frau vor allem
ehrlichen Volk zu schlagen.
    Aufgeregt blickte sie die
Straße hoch und runter. Glücklicherweise entdeckte sie den Jungen auf der
anderen Seite. Dort waren in einer Nische zwischen einem Kolonialwarenladen und
einer steinernen Villa ein Häuflein Gaffer zusammengepfercht.
    Ein Dragoner, der den Gehsteig
entlanggeritten war, hatte sie mit der Flanke seines Pferdes dort
hineingedrängt. Ihr Entsetzen belustigte ihn, und um ihnen die Flucht unmöglich
zu machen, vollführte er vor der Nische Volten und Pirouetten wie in der
Manege, ließ das Pferd rückwärtsgehen und sich aufbäumen wie im Zirkus. Dann
sah er auf einmal die im Schritt zurückkehrenden Kameraden, gab seinem Pferd
die Sporen und nahm mit ein paar Sprüngen seinen Platz in ihrer Reihe ein.
    Die in den Winkel gepreßten
Menschen liefen auseinander. Pawluscha, der vorher Angst gehabt hatte, sich zu
melden, lief zur Großmutter.
    Sie gingen nach Hause. Marfa
Tiwersina knurrte fortwährend vor sich hin: »Verfluchte Totschläger, verdammte
Mörder! Den Menschen zur Freude hat der Zar die Freiheit gegeben, und das
können sie nicht ertragen.
    Alles müssen sie beschmutzen,
jedes Wort drehen sie einem im Munde um.«
    Sie war wütend auf die
Dragoner, auf die ganze Welt und in diesem Moment sogar auf den eigenen Sohn.
In ihrem Zorn glaubte sie, daß an dem ganzen Geschehen Kiprians Wirrköpfe
schuld wären, die sie Irrläufer und Überschlaue nannte.
    »Diese Giftnattern! Was wollen
die Verrückten? Von nichts eine Ahnung! Nur Kläffen und Zanken. Und dieser
Redekünstler, den du so schön nachgemacht hast, Pawluscha — mach's noch mal,
mein Kleiner. Oi, ich lach mich tot! Ja, genau wie er! Bla-bla, bla-bla. Dieser
dumme Schwätzer, diese Schmeißfliege!«
    Daheim überhäufte sie den Sohn
mit Vorwürfen. Sie sei nicht mehr in den Jahren, daß ihr so ein zottiger,
pockennarbiger Holzkopf von seinem Gaul

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