Boris Pasternak
begann die Herrschaft der Phrase, anfangs der
monarchistischen, später der revolutionären Phrase.
Diese
Verirrung der Gesellschaft war allumfassend und ansteckend. Alles geriet unter
ihren Einfluß. Auch unser Hauswesen hielt dem Verhängnis nicht stand. Es geriet
ins Wanken. Statt der natürlichen Lebendigkeit, die stets bei uns geherrscht
hatte, drang ein Teilchen der idiotischen Deklamiersucht auch in unsere
Gespräche, es war ein zur Schau gestelltes, obligatorisches Herumklügeln über
obligatorische Weltthemen. Konnte ein so feinsinniger und gegen sich selbst so
anspruchsvoller Mann wie Pawluscha, der den Schein vom Sein so genau zu unterscheiden
wußte, an dieser eingeschlichenen Falschheit vorbeigehen, ohne sie zu bemerken?
Und hier
beging er einen verhängnisvollen Fehler, der alles im voraus entschied. Er nahm
die Zeichen der Zeit, das gesellschaftliche Übel für eine Erscheinung seines
Hauses. Den unnatürlichen Ton, die amtliche Gezwungenheit unserer
Unterhaltungen bezog er auf sich, sah sie als eine Folge davon, daß er ein
trockener, mittelmäßiger Mann und beschränkter Spießer wäre. Dir wird es
unwahrscheinlich vorkommen, daß solche Lappalien in unserm gemeinsamen Leben
etwas bedeuten konnten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wesentlich das war,
wieviel Dummheiten Pawluscha wegen dieser Kinderei beging.
Er zog in
den Krieg, was niemand von ihm verlangt hatte. Das tat er, um uns von sich, von
seiner vermeintlichen Unterdrückung zu befreien. Damit begann sein Irrwitz.
Mit einer kindischen, fehlgeleiteten Eigenliebe nahm er dem Leben etwas übel,
was man nicht übelnehmen darf. Er begann mit dem Verlauf der Ereignisse, mit
der Geschichte zu hadern. Er fühlte sich mit ihr zerfallen. Bis auf den
heutigen Tag begleicht er mit ihr seine Rechnungen. Von daher seine
herausfordernden Tollheiten. Er geht wegen dieser dummen Ambitionen dem
sicheren Untergang entgegen. Wenn ich ihm doch nur helfen könnte!«
»Wie
unwahrscheinlich rein und stark du ihn liebst! Ja, liebe ihn. Auf ihn bin ich
nicht eifersüchtig, da stell ich mich nicht dazwischen.«
Unbemerkt
kam und ging der Sommer. Juri Shiwago wurde wieder gesund. Für einige Zeit, im
Hinblick auf die geplante Abreise nach Moskau, hatte er drei Posten inne. Die
rasch sich entwickelnde Geldentwertung zwang ihn, mehrere Tätigkeiten in
Einklang zu bringen.
Er stand
mit den Hühnern auf, trat hinaus in die Kupetscheskaja-Straße und ging am Kino
»Gigant« vorbei hinunter zu der ehemaligen Druckerei des Uraler Kosakenheers,
die jetzt »Der Rote Setzer« hieß. An der Ecke Gorodskaja begrüßte ihn an der
Tür der Geschäftsverwaltung ein Schild mit der Aufschrift »Beschwerdebüro«.
Schräg überquerte er den Platz und kam in die Malaja Bujanowka. An dem
Stanhope-Werk vorbei gelangte er über den Hinterhof des Krankenhauses in das
Ambulatorium des Militärlazaretts, das seine wichtigste Arbeitsstelle war.
Die Hälfte
seines Weges lag im Schatten der sich über der Straße berührenden Baumkronen
und führte vorbei an formenreichen, zumeist hölzernen Häuschen mit steil
geknickten Dächern, mit Gitterzäunen, reich gemusterten Toren und geschnitzten
Fensterrahmen.
In der
Nachbarschaft des Ambulatoriums, im ehemaligen Erbpark der Kaufmannswitwe
Goregljadowa, befand sich ein interessantes, nicht sehr hohes Haus von altrussischem
Geschmack. Es war mit glasierten Kacheln verkleidet, deren kantige Pyramiden
nach außen wiesen, und erinnerte an altertümliche Moskauer Bojarenpaläste.
Vom
Ambulatorium begab sich Doktor Shiwago drei- oder viermal pro Dekade in das
ehemalige Lighetti-Haus in der Staraja Mjasskaja-Straße zu den Sitzungen des
hier untergebrachten Jurjatiner Gebietsgesundheitsamtes.
In einem
anderen Stadtbezirk, am entgegengesetzten Ende stand das Haus, das Samdewjatows
Vater Jefim zur Erinnerung an seine Frau, die bei Anfims Geburt gestorben war,
der Stadt geschenkt hatte. In dem Haus befand sich das von Samdewjatow
gegründete Institut für Gynäkologie und Geburtshilfe. Jetzt wurden hier die
medizinisch-chirurgischen Schnellkurse »Rosa Luxemburg« abgehalten. Doktor
Shiwago las allgemeine Pathologie und ein paar fakultative Fächer.
Von all
diesen Tätigkeiten kam er erst nachts nach Hause, erschöpft und ausgehungert,
und fand Lara bei ihren Hausarbeiten, am Herd oder am Waschtrog. Wenn sie so
prosaisch und alltäglich aussah, zerzaust, mit aufgekrempelten Ärmeln und
hochgerafftem Rocksaum, wirkte sie beinahe bestürzend
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