Boris Pasternak
warum Familien auseinanderbrechen, auch deine und meine. Ach, als ob
es dabei auf die Menschen ankäme, auf die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der
Charaktere, auf die Liebe oder Nichtliebe. Alles Überkommene, Eingefahrene,
alles, was mit dem täglichen Leben, dem häuslichen Nest und der menschlichen
Ordnung zu tun hat, ist im Zusammenhang mit dem Umsturz der Gesellschaft und
ihrem Umbau zu Staub zerfallen. Alle Sitten und Gebräuche sind umgestoßen und
zerstört. Geblieben ist einzig die nicht alltägliche, unbemühte Macht der
nackten, bis auf den letzten Faden ausgeplünderten Herzenswärme, für die sich
nichts geändert hat, denn sie hat zu allen Zeiten gefroren, gezittert und sich
hingezogen gefühlt zu einer anderen Herzenswärme, die genauso nackt und einsam
war. Du und ich, wir sind wie die beiden ersten Menschen, wie Adam und Eva, die
am Anfang der Welt nichts hatten, um ihre Blöße zu bedecken, und wir sind jetzt
am Ende der Welt ebenso nackt und unbehaust. Wir beide sind die letzte
Erinnerung an all das unermeßlich Große, was in den vielen Jahrtausenden
zwischen ihnen und uns geschaffen wurde, und in der Erinnerung an diese
verschwundenen Wunder atmen wir und lieben und weinen und halten uns fest und
schmiegen uns aneinander.«
Nach einer
kurzen Pause fuhr sie bedeutend ruhiger fort: »Ich will dir etwas sagen. Wenn
aus Strelnikow wieder Pawluscha Antipow würde. Wenn er aufhörte, zu rasen und
zu wüten. Wenn sich die Zeit zurückdrehen ließe.
Wenn
irgendwo in der Ferne, am Ende der Welt, durch ein Wunder das Fenster unseres
Hauses warm leuchtete, mit der Lampe und den Büchern auf Pawluschas Schreibtisch,
ich glaube, ich würde auf den Knien dorthin kriechen. Alles in mir würde
zusammenzucken. Ich würde dem Ruf der Vergangenheit, dem Ruf der Treue nicht
widerstehen können. Ich würde alles opfern. Selbst das Kostbarste. Dich. Meine
Nähe zu dir, die so leicht ist, so ungezwungen, so selbstverständlich. Oh,
verzeih. Ich sage etwas Falsches. Das stimmt nicht.«
Sie fiel
ihm um den Hals und brach in Schluchzen aus. Doch bald faßte sie sich wieder.
Die Tränen wegwischend, fuhr sie fort: »Aber das ist ja die gleiche Stimme der
Pflicht, die dich zu Tonja ruft. Mein Gott, sind wir arm! Was soll aus uns
werden? Was sollen wir tun?«
Als sie
sich wieder in der Gewalt hatte, sprach sie weiter: »Ich habe dir noch nicht
die Frage beantwortet, was unser Glück zerstört hat. Richtig begriffen habe ich
das erst spät. Ich sage es dir. Es ist eine Geschichte, die nicht nur von uns
handelt. Sie ist das Schicksal vieler Menschen geworden.«
»Sprich,
mein kluges Mädchen.«
»Wir haben
schon vor dem Krieg geheiratet, zwei Jahre ehe er ausbrach. Kaum aber hatten
wir angefangen, nach unseren Vorstellungen zu leben, und unser Hauswesen
eingerichtet, da kam der Krieg. Ich bin jetzt überzeugt, daß er schuld ist an
all dem Unglück, das unsere unglückliche Generation bis heute heimsucht. Ich
kann mich gut an meine Kindheit erinnern. Ich habe die Zeit erlebt, in der die
Begriffe des friedlichen vorigen Jahrhunderts noch wirksam waren. Es war
üblich, der Stimme des Verstandes zu vertrauen. Das, was das Gewissen einem
sagte, galt als natürlich und notwendig. Der Tod eines Menschen von der Hand
eines anderen war eine Seltenheit, eine außergewöhnliche, aus der Reihe
fällende Erscheinung.
Mord, so
nahm man an, gab es nur in Tragödien, Kriminalromanen und auf den Lokalseiten
der Zeitungen, nicht aber im gewöhnlichen Leben.
Und da
plötzlich dieser Sprung aus dem geruhsamen, unschuldigen Gleichmaß in Blut und
Geheul, in allgemeinen Wahnsinn und in die Verrohung durch täglichen und
stündlichen, legalisierten und verherrlichten Mord.
So etwas
geht nie spurlos vorüber. Du erinnerst dich bestimmt besser als ich, wie
schlagartig die allgemeine Zerrüttung einsetzte: Zugverkehr, Versorgung der
Städte mit Lebensmitteln, die Grundlagen des Bewußtseins.«
»Sprich
weiter. Ich weiß, was du sagen willst. Wie du das alles analysierst! Es ist
eine Freude, dir zuzuhören.«
»Damals
kam die Ungerechtigkeit über das russische Land. Das größte Unglück, die Wurzel
alles späteren Übels war der Verlust des Glaubens an den Wert der eigenen
Meinung. Man ging davon aus, daß die Zeit, in der man den Eingebungen des
sittlichen Gespürs folgte, vorüber sei, daß man jetzt mit der Stimme der
Allgemeinheit zu singen und nach fremden, allen aufgezwungenen Vorstellungen zu
leben habe. In wachsendem Maße
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