Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
Vom Netzwerk:
aussah, wie Frauen als Skulpturen abgebildet werden, sondern eher
an einen kampfbereiten Ringer mit kugeligen Muskeln in kurzer Hose erinnerte.

Endlich kam jenseits der
Trennwand jemand darauf, die Portiere zu schließen.
    »Fadej Kasimirowitsch, Lieber,
wo ist Ihre Hand? Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte die Frau, von Tränen und
Übelkeit gewürgt. »Ach, ich habe Entsetzliches durchgemacht! Ich hatte ja solch
einen Verdacht! Fadej Kasimirowitsch ... Ich habe mir vorgestellt... Aber zum
Glück waren das alles Dummheiten, meine krankhafte Phantasie. Denken Sie nur,
wie erleichtert ich bin! Und das Ergebnis ... Und nun... Nun lebe ich noch.«
    »Beruhigen Sie sich, Amalia
Karlowna, ich flehe Sie an, beruhigen Sie sich. Das ist ja alles so peinlich,
wirklich, peinlich.«
    »Wir fahren jetzt nach Hause«,
knurrte Alexander Gromeko den Kindern zu.
    Vor Peinlichkeit vergehend,
standen sie in dem dunklen Vorraum, auf der Schwelle der vorderen Zimmerhälfte,
und da sie nicht wußten, wo sie hinschauen sollten, blickten sie dahin, wo die
Petroleumlampe gehangen hatte. Die Wände waren voller Fotografien, dort stand
ein Regal mit Noten, der Schreibtisch war mit Büchern und Alben vollgehäuft.
Auf der anderen Seite des Eßtischs, auf dem eine gehäkelte Decke lag, saß
schlafend ein junges Mädchen im Sessel, die Arme um die Lehne gelegt und die
Wange daran geschmiegt. Sie mußte todmüde sein, wenn der Lärm und das
geschäftige Treiben sie nicht aufweckten.
    Es war sinnlos, daß sie
hergekommen waren, und ein weiteres Verweilen wäre unschicklich gewesen.
    »Wir fahren gleich«,
wiederholte Alexander Gromeko. »Ich will mich nur noch von Tyschkewitsch
verabschieden.«
    Aber statt des Cellisten kam
ein anderer hinter der Trennwand hervor. Es war ein beleibter, glattrasierter,
stattlicher und sehr selbstsicherer Mann. Über dem Kopf hielt er die Lampe, die
aus ihrem Behälter herausgenommen worden war. Er trat zu dem Tisch, hinter dem
das Mädchen schlief, und stellte die Lampe wieder in den Behälter. Das Licht
weckte die Schlafende. Sie lächelte dem Mann zu, machte schmale Augen und
reckte sich.
    Angesichts des Unbekannten
fuhr Mischa zusammen und verschlang ihn mit den Blicken. Er zupfte Jura am
Ärmel und wollte ihm etwas sagen.
    »Schämst du dich nicht, vor
Fremden zu flüstern? Was sollen sie von dir denken?« fuhr ihm Jura ins Wort, er
wollte nicht hören.
    Währenddessen spielte sich
zwischen dem Mädchen und dem Mann eine stumme Szene ab. Sie sagten einander
kein Wort, sondern wechselten nur Blicke. Aber ihr gegenseitiges Einvernehmen
hatte etwas erschreckend Magisches, als wäre er ein Puppenspieler und sie eine
gehorsam den Bewegungen seiner Hand folgende Marionette.
    Das Lächeln der Müdigkeit, das
auf ihrem Gesicht erschien, zwang sie, die Augen halb zu schließen und den Mund
halb zu öffnen. Aber die spöttischen Blicke des Mannes beantwortete sie mit dem
verschmitzten Zwinkern der Spießgesellin. Beide waren zufrieden, daß alles
gutgegangen, daß ihr Geheimnis nicht enthüllt und die Vergiftete am Leben
geblieben war.
    Jura ließ kein Auge von den
beiden. Aus dem Halbdunkel, in dem ihn niemand sehen konnte, starrte er in den
Lichtkreis der Lampe. Das Schauspiel der Unterwerfung des Mädchens war
unerforschlich geheimnisvoll und hemmungslos offen. Widerstreitende Gefühle
drängten sich in seiner Brust. Ihre noch nicht erlebte Kraft preßte ihm das
Herz zusammen.
    Das also war es, worüber er
sich mit Mischa und Tonja die Köpfe heiß geredet hatte; sie hatten es mit dem
nichtssagenden Wort »abgeschmackt« bezeichnet, dieses Erschreckende und
Anziehende, mit dem sie aus sicherer Entfernung verbal so leicht fertig
geworden waren. Jetzt sah Jura diese Kraft vor sich, durch und durch faßbar und
zugleich verschwommen und Stoff zum Träumen liefernd, erbarmungslos zerstörend
und zugleich klagend und um Hilfe rufend. Wo war ihre kindliche Philosophie
geblieben, und was sollte er jetzt machen?
    »Weißt du, wer das ist?«
fragte Mischa, als sie hinausgingen. Jura, in seine Gedanken vertieft, gab
keine Antwort.
    »Das ist der Mann, der deinen
Vater zum Trinken verleitet und in den Tod getrieben hat. Du weißt schon, im
Zug, ich habe dir davon erzählt.«
    Jura dachte an das Mädchen und
an die Zukunft, nicht an den Vater und die Vergangenheit. Im ersten Moment
verstand er gar nicht, was Mischa sagte. Bei dem Frost fiel das Sprechen
schwer.
    »Durchgefroren, Semjon?«
fragte Alexander Gromeko. Sie fuhren

Weitere Kostenlose Bücher