Boris Pasternak
leckte sich mit der Zungenspitze die trockenen Lippen.
Sie war seit dem Morgen, als Jura sie zuletzt gesehen hatte, sehr schmal
geworden.
Wenn das nur nicht eine
Fehldiagnose ist, dachte er. Es sieht eher wie kruppös aus. Das scheint die
Krisis zu sein. Nachdem er Anna Iwanowna begrüßt und etwas nichtssagend
Aufmunterndes hinzugefügt hatte, was man in solchen Fällen so sagt, schickte er
die Krankenpflegerin hinaus. Dann nahm er Anna Iwanownas Hand, um den Puls zu
fühlen, und griff mit der andern Hand in die Tasche nach dem Stethoskop. Eine
Kopfbewegung der Kranken bedeutete ihm, daß das überflüssig sei. Jura begriff,
daß sie etwas anderes von ihm erwartete. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und
begann zu sprechen: »Sie wollten, daß ich beichte... Der Tod schwebte über
mir... Vielleicht jeden Moment... Wenn du dir einen Zahn ziehen läßt, hast du
Angst vor den Schmerzen, bereitest dich vor... Aber hier ist es nicht der Zahn,
sondern man ist es selbst, ganz und gar, das ganze Leben ... schrumm, weg ist
es, wie mit der Zange... Was ist das eigentlich? Niemand weiß es... Mir ist so
bang und unheimlich.« Anna Iwanowna verstummte. Tränen flössen reichlich über
ihre Wangen. Jura sagte nichts. Nach einer Weile sprach die Kranke weiter: »Du
bist so talentiert... Talent, das ist... nicht wie bei allen... Du mußt etwas
wissen... Sage mir etwas... Beruhige mich... «
»Was soll ich sagen«,
antwortete Jura, rutschte unruhig auf dem Stuhl herum, stand auf, ging durchs
Zimmer und setzte sich wieder. »Erstens, morgen werden Sie sich besser fühlen,
es gibt Anzeichen, dafür verbürge ich mich. Und außerdem - Tod, Bewußtsein,
Glaube an die Auferstehung ... Sie wollen meine Meinung als
Naturwissenschaftler hören? Vielleicht lieber ein andermal? Nein? Jetzt gleich?
Na, wie Sie meinen. Aber das ist schwierig, so auf Anhieb.«
Er improvisierte eine ganze
Vorlesung und wunderte sich, wie gut es ging.
»Die Auferstehung. In der
groben Form, wie sie zum Trost der Schwachen behauptet wird, ist sie mir fremd.
Ich habe die Worte Christi über die Lebenden und die Toten immer anders
verstanden. Wo sollte man auch hin mit den Unmassen von Menschen, die sich in
den Jahrtausenden angesammelt haben? Für die würde das ganze Weltall nicht
ausreichen, und Gott, das Gute und der Sinn würden aus der Welt verschwinden.
Sie würden in dem gierigen, tierischen Gedränge zerquetscht werden.
Aber dasselbe gleichbleibend
unermeßliche Leben erfüllt ständig das All und erneuert sich zu jeder Stunde in
unzähligen Verbindungen und Verwandlungen. Sie denken ängstlich darüber nach,
ob Sie auferstehen werden, dabei sind Sie schon auferstanden, als Sie geboren
wurden, Sie haben es nur nicht bemerkt.
Ob Sie Schmerzen haben werden,
ob das Gewebe seinen Zerfall spürt? Mit anderen Worten, was wird mit Ihrem
Bewußtsein? Doch was ist Bewußtsein? Sehen wir's uns mal an. Bewußt einschlafen
wollen führt mit Sicherheit zu Schlaflosigkeit, der bewußte Versuch, sich in
die eigene Verdauungstätigkeit hineinzufühlen, führt mit Sicherheit zu
Funktionsstörungen. Das Bewußtsein ist Gift, ein Mittel zur Selbstvergiftung
für das Subjekt, das es bei sich selbst anwendet. Bewußtsein ist Licht, das
nach außen drängt, Bewußtsein leuchtet über unserem Weg, damit wir nicht
straucheln. Bewußtsein, das sind die Scheinwerfer einer fahrenden Lokomotive.
Wird das Licht nach innen gekehrt, so kommt es zur Katastrophe.
Also, was wird mit Ihrem
Bewußtsein? Mit Ihrem. Ja, mit Ihrem. Was sind Sie denn eigentlich? Darin liegt
die ganze Schwierigkeit. Untersuchen wir das. Als was haben Sie sich in
Erinnerung, welchen Teil von sich haben Sie bewußt wahrgenommen? Ihre Nieren,
die Leber, die Gefäße? Nein, wie Sie sich auch erinnern, Sie haben sich immer
nur äußerlich wahrgenommen, in Ihrer tätigen Erscheinung, in dem Werk Ihrer
Hände, in der Familie, in anderen Menschen. Und jetzt hören Sie gut zu. Der
Mensch in den anderen Menschen ist die Seele des Menschen. Das ist es, was Sie
sind, womit Ihr Bewußtsein lebenslang geatmet, sich genährt und getränkt hat.
Mit Ihrer Seele, Ihrer Unsterblichkeit, Ihrem Leben in den anderen Menschen.
Und weiter? In den anderen Menschen sind Sie gewesen, in den anderen Menschen
werden Sie bleiben. Was macht es für einen Unterschied, daß dies später
Erinnerung genannt wird? Das werden Sie sein, eingegangen in den Bestand der
Zukunft.
Schließlich ein Letztes. Es
gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Der
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