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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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hinunter. Im Anatomiesaal waren einzeln und in
Gruppen zerraufte Studenten am Werk. Die einen büffelten, von Knochen umgeben
und in zerfledderten Lehrbüchern blätternd, andere präparierten schweigend in
einem Winkel, noch andere trieben Possen, machten Scherze und jagten die
Ratten, die in großer Zahl über den Steinfußboden flitzten. Im Halbdunkel
leuchteten wie Phosphor die durch ihre Nacktheit ins Auge fallenden Leichen von
Unbekannten, nicht identifizierte jugendliche Selbstmörder und junge Mädchen,
die sich ertränkt hatten, gut erhalten und noch nicht in Verwesung übergegangen
waren. Das eingespritzte Tonerdesalz verjüngte sie und verlieh ihnen eine
trügerische Straffheit. Die Leichen wurden geöffnet, zertrennt und präpariert,
doch die Schönheit des menschlichen Körpers blieb sich treu, mochte er noch so
zerkleinert sein. So daß das Staunen angesichts einer grob auf den verzinkten
Tisch geworfenen Nixe nicht verging, wenn es sich auf eine abgetrennte Hand oder
ein präpariertes Handgelenk übertrug. Im Keller roch es nach Formalin und
Karbolsäure, und die Anwesenheit eines Geheimnisses war in allem zu spüren, von
dem unbekannten Schicksal dieser hingestreckten Körper bis hin zu dem
eigentlichen Geheimnis des Lebens und des Todes, der hier im Keller wie zu
Hause oder wie in seinem Stabsquartier war.
    Die Stimme dieses
Geheimnisses, die alles übertönte, verfolgte Jura und störte ihn beim
Präparieren. Doch vieles andere im Leben störte ihn ebenso. Er war daran gewöhnt,
und die Ablenkung beunruhigte ihn nicht.
    Jura war ein guter Denker und
schrieb hervorragend. Schon in seiner Gymnasiastenzeit hatte er davon geträumt,
Prosa zu verfassen, ein Buch der Lebensbeschreibungen, in das er wie verborgene
Sprengkörper das Umwerfendste von dem einbauen konnte, was er gesehen und
durchdacht hatte. Aber für solch ein Buch war er noch zu jung, daher gab er
sich mit dem Schreiben von Gedichten zufrieden wie ein Maler, der sich
lebenslang auf Studien zu einem geplanten großen Gemälde beschränkt.
    Er verzieh seinen Gedichten
die Sünde ihrer Entstehung um ihrer Energie und Originalität willen. In diesen
beiden Eigenschaften, Energie und Originalität, sah er die Vertreter der
Realität in den Künsten, die er im übrigen für gegenstandslos, müßig und
überflüssig hielt.
    Jura wußte, daß er mit seinem
Onkel Nikolai einige Charaktereigenschaften gemein hatte.
    Wedenjapin lebte in Lausanne.
In den Büchern, die er dort auf russisch und in Übersetzungen veröffentlichte,
entwickelte er seinen alten Gedanken, daß die Geschichte ein zweites Universum
sei, von der Menschheit erschaffen als Antwort auf das Phänomen des Todes mit
Hilfe der Phänomene Zeit und Gedächtnis. Herzstück dieser Bücher war ein neu
gesehenes Christentum, ihre direkte Folge eine neue Kunstidee.
    Mehr noch als auf Jura wirkte
dieses Gedankengut auf seinen Freund Mischa Gordon. Unter diesem Einfluß wählte
er als sein Spezialgebiet die Philosophie. An seiner Fakultät hörte er
Vorlesungen über Theologie und dachte sogar daran, später in die geistliche
Akademie überzuwechseln.
    Der Einfluß des Onkels brachte
Jura voran und machte ihn innerlich frei, Mischa dagegen schlug er in Fesseln.
Jura begriff, welche Rolle bei dessen extremen Interessen seine Herkunft
spielte. Aus Takt und Vorsicht versuchte er nicht, ihm die seltsamen Pläne
auszureden. Aber oft empfand er den Wunsch, Mischa als Empiriker zu sehen, der
dem Leben näherstand.
     
    Eines Abends Ende November kam
Jura spät von der Universität. Er war sehr müde und hatte den ganzen Tag nichts
gegessen. Man sagte ihm, es habe am Tag eine schreckliche Aufregung gegeben,
weil Anna Iwanowna Krämpfe hatte. Mehrere Ärzte waren gekommen und hatten
empfohlen, nach einem Geistlichen zu schicken, diesen Gedanken jedoch wieder
fallengelassen. Jetzt ging es ihr besser, sie war bei Bewußtsein und hatte
verlangt, Jura, sobald er käme, gleich zu ihr zu schicken.
    Jura gehorchte und ging, ohne
sich umgekleidet zu haben, ins Schlafzimmer.
    Das Zimmer trug noch die
Spuren des Durcheinanders. Eine Krankenpflegerin ordnete mit lautlosen
Bewegungen etwas auf dem Nachttisch. Überall lagen zusammengeknüllte Servietten
und feuchte Handtücher herum, die als Umschläge gedient hatten. Das Wasser im
Spülgefäß war rosa von ausgespucktem Blut. Darin lagen die Splitter von Glasampullen
mit abgebrochener Spitze und aufgequollene Wattebäusche.
    Die Kranke war
schweißüberströmt und

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