Boris Pasternak
Scheiben huschten der bunte Widerschein der brennenden
Weihnachtsbaumkerzen und die Schatten der Feiernden, als wollten die
Hausbewohner den Straßenpassanten auf gespannten Laken die Schattenbilder
einer Laterna magica vorführen.
In der Kamergerski-Gasse blieb
Lara stehen. Ich kann nicht mehr, ich halte es nicht aus, brach es beinahe laut
aus ihr hervor. Ich geh hinauf und erzähle ihm alles, dachte sie, nahm sich
zusammen und öffnete die schwere Tür des vornehmen Hauses.
Pawluscha, rot vor Anstrengung
und die Zunge in die Wange drückend, mühte sich vor dem Spiegel ab, den Kragen
umzulegen und den einknickenden Kragenknopf in die Löcher des gestärkten
Vorhemds hineinzubringen. Er wollte einen Besuch machen, und er war noch so
rein und unverdorben, daß er ganz verlegen wurde, als Lara, ohne anzuklopfen,
hereinkam und ihn unvollständig angezogen vorfand. Er sah sofort, daß sie
erregt war. Ihre Beine gaben nach. Sie kam herein, ihre Schritte stießen das
Kleid auseinander, als ob sie es durchwatete.
»Was hast du? Was ist
passiert?« fragte er besorgt und eilte ihr entgegen.
»Setz dich neben mich. So, wie
du bist. Zieh dich nicht weiter an. Ich hab's eilig, muß gleich wieder weg.
Rühr den Muff nicht an. Warte. Drehe dich einen Moment um.«
Er gehorchte. Lara trug ein
englisches Kostüm. Sie zog die Jacke aus, hängte sie an einen Nagel, nahm
Rodions Revolver aus dem Muff und steckte ihn in die Jackentasche. Dann kehrte
sie zum Sofa zurück und sagte: »Du kannst dich wieder umdrehen. Zünde eine
Kerze an und mach das Licht aus.«
Lara unterhielt sich gern bei
schummrigem Kerzenschein. Pawluscha hielt stets für sie eine volle Packung
Kerzen vorrätig. Jetzt ersetzte er den Stummel im Leuchter durch eine neue
Kerze, stellte den Leuchter aufs Fensterbrett und zündete den Docht an. Das
Flämmchen erstickte zunächst am Stearin, sprühte knisternde Sternchen nach
allen Seiten und streckte sich dann pfeilgerade. Das Zimmer füllte sich mit
sanftem Licht. Im Eis der zugefrorenen Scheibe schmolz in Höhe der
Kerzenflamme ein schwarzes Loch.
»Hör zu, Pawluscha«, sagte
Lara. »Ich habe Schwierigkeiten. Ich brauche Hilfe, um da herauszukommen.
Erschrick nicht und stell mir keine Fragen, aber du mußt dich von dem Gedanken
trennen, daß wir wie alle sind. Du wirst nie ruhig sein können. Ich bin ständig
in Gefahr. Wenn du mich liebst und mich vor dem Tod bewahren willst, dann laß
uns möglichst bald heiraten.«
»Aber das ist mein innigster
Wunsch«, fiel er ihr ins Wort. »Nenne mir den Tag, mir ist jeder recht, den du
möchtest. Doch sage mir klar und einfach, was du hast, und quäle mich nicht mit
Rätseln.«
Lara wich jedoch einer
direkten Antwort aus und lenkte ihn rasch ab. Sie sprachen noch lange über
Themen, die mit dem Gegenstand von Laras Kummer nichts zu tun hatten.
In diesem Winter schrieb Jura
einen wissenschaftlichen Aufsatz über die Nervenstrukturen der Netzhaut, mit
dem er sich um die Goldmedaille der Universität bewerben wollte. Obwohl er sein
Examen in Allgemeinmedizin machen würde, kannte er das Auge so gründlich wie
ein angehender Augenarzt.
Dieses Interesse für die
Physiologie des Sehens zeigte eine andere Seite von Juras Natur — seine
schöpferischen Fähigkeiten und sein Nachdenken über das Wesen eines
künstlerischen Werkes und den Aufbau einer logischen Idee.
Tonja und er wollten mit einer
Schlittendroschke zur Weihnachtsfeier bei den Swentizkis fahren. Beide hatten
sechs Jahre Seite an Seite gelebt, das Ende der Kindheit und den Beginn der
Jugend. Sie kannten einander bis in die kleinsten Einzelheiten. Sie hatten
gleiche Gewohnheiten und eine eigene Art und Weise, kurze witzige Äußerungen zu
machen und als Antwort abgerissen loszuprusten. So fuhren sie auch jetzt
schweigend, die Lippen in der Kälte zusammengepreßt, und wechselten kurze
Bemerkungen. Beide hingen ihren Gedanken nach.
Jura dachte daran, daß der
Termin für den Medaillenwettbewerb näherrückte und er sich mit dem Aufsatz
beeilen mußte, und in dem festlichen Getümmel des zu Ende gehenden Jahres in
den Straßen sprang er von diesem Gedanken auf andere.
An Mischa Gordons Fakultät
wurde eine hektographierte
Studentenzeitschrift herausgegeben, die Gordon redigierte. Jura hatte ihm schon
vor längerer Zeit einen Artikel über Block versprochen. Für Block schwärmte die
Jugend beider Hauptstädte, er und Mischa noch mehr als andere.
Aber auch diese Gedanken
beschäftigten Jura nicht lange.
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