Boris Pasternak
ihr wohl bewußt war, und das konnte sie derzeit
nirgends bekommen. Wegen Rodions dummer Unterschlagung fühlte sie sich wie eine
Geisel und wußte vor ohnmächtiger Empörung nicht wohin mit sich.
In allem glaubte sie Zeichen
von Geringschätzung zu erkennen. Wenn Bekannte der Kologriwows zu Besuch kamen
und ihr besondere Aufmerksamkeit erwiesen, bedeutete es, daß sie sie als
demütigen »Zögling« und leichte Beute ansahen. Ließen sie sie hingegen in Ruhe,
so war das der Beweis, daß sie als ein Garnichts betrachtet und deshalb nicht
beachtet wurde.
Anwandlungen von Hypochondrie
hinderten Lara nicht, die Zerstreuungen der zahlreichen Gäste in Dupljanka zu
teilen. Sie badete und schwamm, fuhr Boot, beteiligte sich an nächtlichen
Picknicks am anderen Flußufer, ließ mit den andern Feuerwerkskörper steigen und
tanzte. Sie spielte bei Liebhaberaufführungen mit und wetteiferte mit
besonderem Vergnügen im Zielschießen mit kurzen Mausergewehren, denen sie
jedoch Rodions leichten Revolver vorzog. Damit übte sie, bis sie große
Treffsicherheit erlangt hatte, und sie beklagte sich im Scherz, daß ihr als
Frau der Weg des Duellanten und Haudegens verwehrt sei. Aber je mehr sie sich
amüsierte, desto schlimmer wurde es mit ihr. Sie wußte selber nicht, was sie
wollte.
Dies verstärkte sich noch nach
ihrer Rückkehr in die Stadt. Zu all den Unannehmlichkeiten kamen leichte
Zerwürfnisse mit Pawluscha (sich ernsthaft mit ihm zu zanken vermied Lara, denn
sie sah in ihm ihren letzten Schutz). Er wurde in letzter Zeit zunehmend
selbstsicher. Belehrende Töne in seiner Rede erheiterten und bekümmerten Lara.
Pawluscha, Lipa, die
Kologriwows, das Geld - all das ging ihr im Kopf herum. Das Leben wurde ihr
zuwider. Sie verlor fast den Verstand. Am liebsten hätte sie alles hingeworfen
und etwas ganz Neues begonnen und erprobt. In dieser Stimmung faßte sie
Weihnachten neunzehnhundertelf einen verhängnisvollen Entschluß. Sie wollte
sich unverzüglich von den Kologriwows trennen und ihr Leben allein und
unabhängig einrichten, das dafür erforderliche Geld aber von Komarowski
erbitten. Sie glaubte, nach allem, was geschehen war, und nach den Jahren
selbst erkämpfter Freiheit müsse er ihr ritterlich helfen, ohne irgendwelche
Erklärungen zu fordern, uneigennützig und ohne jede Schmierigkeit.
Zu diesem Zweck machte sie
sich am siebenundzwanzigsten Dezember auf den Weg zu den Petrowskije-Linien und
steckte beim Gehen Rodions geladenen und entsicherten Revolver in den Muff, mit
der Absicht, auf Komarowski zu schießen, falls er sich weigerte, sie
mißverstand oder irgendwie erniedrigte.
In einer seltsamen Verwirrung
ging sie durch die festlichen Straßen, ohne etwas wahrzunehmen. Der geplante
Schuß krachte schon in ihrer Seele, völlig gleichgültig, auf wen er gezielt
war. Nichts als der Schuß war in ihrem Bewußtsein. Sie hörte ihn den ganzen Weg
über, und es war ein Schuß auf Komarowski, auf sich selbst, auf das eigene
Schicksal und auf die Eiche in der Lichtung von Dupljanka mit der in den Stamm
gekerbten Zielscheibe.
»Den Muff nicht anrühren«,
sagte sie zu Emma Ernestowna, die nur »Ah« und »Oh« rief, als sie die Hände
nach Lara ausstreckte, um ihr beim Ablegen zu helfen.
Komarowski war nicht zu Hause.
Sie redete Lara zu, hereinzukommen und den Pelz auszuziehen.
»Ich kann nicht. Ich bin in
Eile. Wo ist er?«
Emma Ernestowna sagte, er sei
zu Besuch, bei einer Weihnachtsfeier. Mit der Adresse in der Hand lief Lara die
düstere Treppe mit den bunten Wappen auf den Fenstern hinunter, die ihr alles
in Erinnerung riefen, und machte sich auf den Weg in das Mehlstädtchen zu den
Swentizkis.
Erst jetzt, als sie zum
zweitenmal auf die Straße trat, blickte sie um sich. Da war der Winter. Da war
die Stadt. Da war der Abend.
Da war die eisige Kälte.
Schwarzes Eis bedeckte die Straßen, dick wie die Glasböden zerschlagener
Bierflaschen. Das Atmen tat weh. In der Luft schwebte grauer Raureif, der mit
seiner zottigen Borstigkeit das Gesicht zu kitzeln und zu pieken schien wie das
graue Fell ihres vereisten Pelzkragens, das ihr in den Mund drang. Mit
hämmerndem Herzen ging sie durch diemenschenleeren Straßen. Die Türen der
Teestuben und Garküchen
dampften. Aus dem Nebel tauchten Gesichter auf, von der Kälte rot wie Wurst;
die zottigen Köpfe der Pferde und Hunde hingen voller kleiner Eiszapfen. Die
dick befrorenen Fenster der Häuser waren wie mit Kreide beschmiert, und über
die undurchsichtigen
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