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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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den
Kologriwows.
     
    Die Arbeit bei den Kologriwows
hinderte Lara nicht, das Gymnasium abzuschließen, ein Studium aufzunehmen und
es mit Erfolg durchzustehen; nun näherte sie sich dem Abschluß, der im
kommenden Jahr neunzehnhundertzwölf sein sollte.
    Im Frühjahr neunzehnhundertelf
beendete ihre Schülerin Lipa das Gymnasium. Sie hatte schon einen Bräutigam,
den jungen Ingenieur Friesendank, der einer guten und wohlhabenden Familie
entstammte. Die Eltern billigten Lipas Wahl, aber sie waren dagegen, daß sie so
früh die Ehe schloß, und rieten ihr zu warten. Darüber kam es zu dramatischen
Szenen. Die verwöhnte und launische Lipa, die der Liebling der Familie war,
schrie ihre Eltern an, weinte und stampfte mit den Füßen.
    In dem reichen Haus, in dem
Lara als Familienmitglied galt, wurde sie nicht an die Schuld erinnert, die sie
für Rodion auf sich genommen hatte.
    Sie würde die Schuld längst
abgetragen haben, wenn sie nicht ständige Ausgaben gehabt hätte, deren
Bestimmung sie geheimhielt.
    Ohne daß Pawluscha davon
wußte, schickte sie Geld an seinen Vater, den verbannten Strafansiedler Pawel
Antipow, und half auch seiner häufig kränkelnden, zänkischen Mutter. Überdies
trug sie noch heimlicher dazu bei, Pawluschas Ausgaben zu verringern, indem sie
seinen Quartierwirten für Kost und Logis etwas dazuzahlte.
    Pawluscha, der etwas jünger
als sie war, liebte sie bis zum Wahnsinn und folgte ihr in allem. Sie bestand
darauf, daß er nach Abschluß der Realschule noch Latein und Griechisch lernte,
um an der philosophischen Fakultät studieren zu können. Es war ihr Traum,
Pawluscha nach ihrer beider Staatsexamen zu heiraten und mit ihm als Lehrer in
irgendeine Gouvernementsstadt im Ural zu gehen, er an ein Jungen-, sie an ein
Mädchengymnasium.
    Pawluscha wohnte in einem
Zimmer, das Lara für ihn gesucht und bei ruhigen Quartierwirten gemietet hatte,
in einem neuen Haus in der Kamergerski-Gasse, unweit des Künstlertheaters.
    Im Sommer neunzehnhundertelf
war Lara zum letztenmal mit den Kologriwows in Dupljanka. Sie liebte diese
Stätte selbstvergessen, mehr noch als die Eigentümer. Diese wußten das, und es
galt als ungeschriebenes Gesetz, daß Lara ihre Sommer dort verbringen konnte.
Wenn der heiße, schmutzige Zug sie abgesetzt hatte und weiterfuhr und Lara
angesichts der hier herrschenden uferlosen, atemberaubenden, duftigen Stille
vor Erregung die Sprache verlor, schickten die anderen sie allein zu Fuß in das
Gut voraus, während noch an dem Haltepunkt das Gepäck in den Wagen verladen
wurde. Der Kutscher von Dupljanka, der einen Kosakenrock ohne Ärmel trug und
darunter ein rotes Hemd, dessen Ärmel durch die Armlöcher schauten, pflegte den
Herrschaften im Wagen die örtlichen Neuigkeiten der Saison zu erzählen.
    Lara folgte dem Bahndamm auf
einem von Pilgern und Wallfahrern ausgetretenen Fußweg und bog in einen
Wiesenpfad ein, der zum Wald führte. Hier blieb sie dann immer stehen, kniff
die Augen zu und atmete tief die verwirrend duftende Luft der Weite ein. Diese
Luft war ihr lieber als Vater und Mutter, wertvoller als ein Geliebter, klüger
als ein Buch. Für einen Moment erschloß sich ihr wieder der Sinn ihres Daseins.
Sie erkannte, daß sie lebte, um sich in den unglaublichen Schönheiten der Erde
zurechtzufinden und sie beim Namen zu nennen, und falls das ihre Kräfte
überstieg, wollte sie aus Liebe zum Leben Nachfolger gebären, die das statt
ihrer tun würden.
    In diesem Sommer war Lara bei
ihrer Ankunft todmüde von all den kräftezehrenden Arbeiten, die sie sich
aufgebürdet hatte. Sie geriet leicht in Verdruß. In ihr entwickelte sich ein
ängstliches Mißtrauen, das sie früher nie gekannt hatte. Dieser Zug schadete
ihrem Charakter, der sich stets durch Großzügigkeit und das Fehlen von
Pedanterie ausgezeichnet hatte.
    Die Kologriwows wollten sie
nicht gehen lassen. Wie stets war sie bei ihnen von Liebe umgeben. Aber seit
sie selbständig geworden war, fand sie sich in diesem Hause überflüssig. Sie
lehnte das Gehalt ab, doch es wurde ihr aufgedrängt. Sie brauchte es ja auch,
und als Gast des Hauses anderswo Geld zu verdienen, schickte sich nicht und war
praktisch undurchführbar.
    Lara hielt ihre Stellung für
verlogen und unerträglich. Sie wähnte, eine Belastung für alle zu sein, die es
ihr nur nicht zeigten. Sie war sich selber eine Last. Am liebsten wäre sie aufs
Geratewohl sich und den Kologriwows davongelaufen, aber sie mußte erst einmal
das Geld zurückzahlen, wie

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