Boris Pasternak
mit
einem Duft von Frische brachen Sand- und Staubwolken zu den Fenstern herein.
Zwei Schülerinnen, die sich anbiedern wollten, rannten beflissen in den
Korridor, um den Hausmeister zu rufen, damit er die Fenster schloß, und als sie
die Tür öffneten, riß der Zugwind auf sämtlichen Bänken der Klasse die
Löschblätter von den Heften.
Die Fenster wurden
geschlossen. Ein schmutziger Stadtregen, vermischt mit Staub, prasselte nieder.
Lara riß ein Blatt aus ihrem Notizheft und schrieb ihrer Banknachbarin Nadja
Kologriwowa: »Nadja, ich muß mein Leben unabhängig von der Mutter einrichten.
Kannst du mir helfen, einträgliche Nachhilfestunden zu bekommen? Ihr kennt doch
so viele Reiche.«
Nadja antwortete ebenfalls
schriftlich: »Für Lipa wird eine Erzieherin gesucht. Komm zu uns. Das wäre
toll! Du weißt ja, wie meine Eltern dich liebhaben.«
Über drei Jahre lebte Lara bei
den Kologriwows wie hinter einer Mauer. Niemand stellte ihr nach, und sogar
ihre Mutter und ihr Bruder, denen sie sich sehr entfremdet fühlte, ließen
nichts von sich hören.
Lawrenti Kologriwow war ein
Großunternehmer modernster Denkungsart, klug und talentiert. Er haßte die
veraltete Ordnung mit dem doppelten Haß des Mannes von legendärem Reichtum, der
den Staatsschatz hätte kaufen können, und des märchenhaft hochgestiegenen
Emporkömmlings aus dem einfachen
Volk. Er versteckte bei sich Illegale, bezahlte Verteidiger für politisch
Angeklagte, unterstützte, wie scherzhaft behauptetwurde, sogar die Revolution,
womit er zu seinemeigenen Sturz als igentümer beitrug, undveranstaltete Streiks
in seiner eigenen Fabrik. Erwar ein treffsicherer Schütze und
leidenschaftlicherJäger und fuhr im Winter achtzehnhundertfünfundneunzig
sonntags ach Serebrjany Bor oder auf die Lossiny-Insel, um Untergrundkämpfer im
Schießen zu unterweisen.
Er war ein großartiger Mensch.
Seine Frau Serafima war ihm eine würdige Gefährtin. Lara empfand für beide
hingerissene Hochachtung. Sie wiederum wurde von allen im Hause geliebt wie
eine Angehörige.
Im vierten Jahr ihres
sorglosen Lebens erschien ihr Bruder Rodion mit einem Anliegen bei ihr. Mit
geckenhaft wiegendem Gang auf seinen langen Beinen, mit wichtigtuerisch
näselnder und unnatürlich gedehnter Redeweise erzählte er ihr, die Junker
seines Jahrgangs hätten Geld gesammelt, um dem Anstaltsleiter ein
Abschiedsgeschenk zu machen. Dieses Geld hätten sie ihm gegeben, damit er ein
Geschenk aussuchte und kaufte. Vor drei Tagen habe er das Geld bis auf die
letzte Kopeke verspielt. Nachdem er dies gesagt hatte, ließ er sich mit seiner
schlaksigen Figur in einen Sessel fallen und brach in Tränen aus.
Als Lara das hörte, überlief
es sie kalt. Rodion fuhr schluchzend fort: »Gestern war ich bei Komarowski. Er
hat es abgelehnt, über dieses Thema mit mir zu sprechen, doch er sagte, wenn du
nur wolltest... Zwar hättest du uns alle nicht mehr lieb, aber deine Macht über
ihn sei noch immer groß... Lara... Ein Wort von dir genügt... Verstehst du, was
das für eine Schande ist und wie das die Ehre der Junkeruniform befleckt? Geh
zu ihm, was macht es dir schon aus, bitte ihn darum... Du wirst doch nicht
zulassen, daß ich die Unterschlagung mit meinem Blut abwasche?«
»Mit Blut abwaschen... Ehre
der Junkeruniform«, wiederholte Lara entrüstet und ging aufgeregt im Zimmer
herum. »Ich bin keine Uniform, ich habe keine Ehre, und mit mir kann man
machen, was man will. Begreifst du überhaupt, worum du mich bittest, ist dir
klar, was er dir anbietet? Jahr um Jahr habe ich mit einer wahren
Sisyphusarbeit etwas aufgebaut, ohne mich zu schonen, und da kommt einer daher,
und es ist ihm ganz egal, daß er einmal pustet und ausspuckt und alles in
Trümmer fällt. Scher dich doch zum Teufel! Von mir aus erschieß dich! Was
geht's mich an? Wieviel brauchst du denn?«
»Sechshundertneunzig Rubel,
ein bißchen mehr, rund gerechnet siebenhundert«, sagte Rodion nach einigem
Zögern.
»Rodion! Du bist ja
wahnsinnig! Weißt du eigentlich, was du redest? Siebenhundert Rubel hast du
verspielt? Rodion! Ist dir klar, wie lange ein gewöhnlicher Mensch wie ich
braucht, um solch eine Summe mit ehrlicher Arbeit zu verdienen?«
Nach einer Pause sprach sie
kühl und fremd weiter: »Gut. Ich versuche es. Komm morgen wieder. Und bring den
Revolver mit, mit dem du dich erschießen wolltest. Der wird mein Eigentum. Mit
einem tüchtigen Vorrat von Patronen, denk dran.«
Das Geld bekam sie von
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