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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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gehört?«
    In den letzten Tagen hatten
sie über Gott und die Welt gesprochen. Gordon kannte die Gedanken seines
Freundes über den Krieg und den Zeitgeist. Juri hatte ihm erzählt, wie mühsam
er sich an die blutige Logik der gegenseitigen Vernichtung gewöhnt hatte, an
den Anblick der entsetzlichen Verwundungen, an die verstümmelten Überlebenden,
die von der heutigen Kriegstechnik in Stücke formlosen Fleisches verwandelt
wurden.
    Gordon, der Juri Shiwago
ständig begleitete, bekam jeden Tag irgendwo Interessantes zu sehen. Natürlich
erkannte er, wie unsittlich es war, die Tapferkeit anderer müßig zu beobachten,
zuzusehen, wie sie mit übermenschlicher Willensanstrengung die Todesangst
besiegten, und Wagemut und Opferbereitschaft der Männer mitzuerleben. Aber
seine untätigen und wirkungslosen Seufzer dünkten ihn auch nicht sittlicher. Er
war der Auffassung, man müsse sich je nach der Situation, in die das Leben
einen stelle, ehrlich und natürlich verhalten.
    Daß man beim Anblick
Verwundeter in Ohnmacht fallen konnte, lernte er an sich selber kennen, als sie
zu einer fliegenden Rotkreuz-Abteilung fuhren, die westlich von ihnen auf einem
Verbandplatz gleich hinter den Stellungen tätig war.
    Sie kamen an den Rand eines
großen Waldes, der durch Artilleriebeschuß zur Hälfte abrasiert war. In dem
zertrümmerten und zerstampften Unterholz lagen umgestürzte zerschlagene und
zerbrochene Munitionswagen. An einen Baum war ein Reitpferd gebunden. Von dem
Holzgebäude einer Försterei weiter hinten war das halbe Dach abgetragen. Der
Verbandplatz befand sich im Büro der Försterei und in zwei großen grauen
Zelten, die jenseits des Waldwegs mitten im Wald aufgeschlagen waren.
    »Ich hätte dich nicht
mitnehmen sollen«, sagte Juri. »Die Gräben sind ganz in der Nähe, anderthalb
oder zwei Werst, und unsere Batterien stehen dort hinter dem Wald. Hörst du,
was hier los ist? Bitte spiel nicht den Helden, den glaube ich dir nicht. Du
hast jetzt das Herz in der Hose, und das ist ganz normal. Die Lage kann sich
jeden Moment ändern. Hier werden Granaten einschlagen.«
    Auf der Erde neben dem Waldweg
lagen breitbeinig, in schweren Stiefeln, auf dem Bauch oder auf dem Rücken
verstaubte und erschöpfte junge Soldaten in verschwitzter Feldbluse, der Rest
einer stark gelichteten Abteilung. Man hatte sie aus dem schon vier Tage
andauernden Gefecht herausgezogen und zu einer kurzen Erholung ins nahe
Hinterland geschickt. Die Soldaten lagen da wie versteinert, sie hatten nicht
die Kraft, zu lächeln oder Zoten zu reißen, und keiner von ihnen wandte den
Kopf, als auf dem Waldweg von weitem mehrere zweirädrige Einspänner im Trab
näherratterten. Die ungefederten Fahrzeuge holperten fürchterlich und drohten,
ihren unglücklichen Insassen die Knochen zu zerbrechen und die Eingeweide von
innen nach außen zu kehren. Es waren Verwundete, die zum Verbandplatz gebracht
wurden, wo sie Erste Hilfe erhalten, in aller Eile verbunden und in besonders
schlimmen Einzelfällen sogleich operiert werden sollten. Sie alle waren vor
einer halben Stunde, während einer kurzen Feuerpause, in grauenhafter Zahl vom
Feld vor den Gräben aufgesammelt worden. Gut die Hälfte von ihnen war ohne
Bewußtsein.
    Als die Wagen an der Vortreppe
des Förstereibüros hielten, kamen Sanitäter mit Tragen und hoben die
Verwundeten heraus. Aus einem der Zelte blickte, den Türvorhang unten
festhaltend, eine Krankenschwester. Das war nicht ihre Schicht. Sie hatte frei.
Hinter den Zelten beschimpften sich lautstark zwei Männer. Der frische Hochwald
trug den Widerhall ihres Streits dumpf weiter, ohne daß Worte zu verstehen
gewesen wären. Als die Verwundeten gebracht wurden, gingen die Streithähne eben
über den Waldweg zum Büro. Ein wütender junger Offizier schnauzte den Arzt der
fliegenden Abteilung an, um von ihm zu erfahren, wo die Artillerie, die früher
hier in Stellung gelegen habe, hingekommen sei. Der Arzt wußte von nichts, das
ging ihn nichts an. Er bat den Offizier, ihn in Ruhe zu lassen und nicht so zu
schreien, denn er habe sich um die Verwundeten zu kümmern, aber der Offizier
ließ nicht locker und schmähte das Rote Kreuz und die Artillerieverwaltung und
alles auf der Welt. Zu dem Arzt trat Juri Shiwago. Sie begrüßten sich und
stiegen die Stufen der Försterei hinauf. Der Offizier, der mit leicht
tatarischem Akzent sprach, band weiter fluchend sein Pferd vom Baum los, saß
auf und sprengte den Weg entlang in den Wald. Die Schwester

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