Boris Pasternak
beigegeben
hat?«
»Das ist erstaunlich richtig«,
fiel Gordon ihm ins Wort. »Ich will dir jetzt etwas sagen zu der Szene, die wir
heute gesehen haben. Der Kosak, der den armen Patriarchen verhöhnt hat, ist
ebenso wie Tausende ähnlicher Fälle ein Beispiel für einfachste Niedertracht,
über die man nicht philosophiert, sondern für die man eins in die Schnauze
gibt. Aber für die Judenfrage insgesamt ist die Philosophie brauchbar, und dann
zeigt sie sich von einer überraschenden Seite. Ich sage dir da nichts Neues.
Alle diese Gedanken habe ich wie du von deinem Onkel.
Was ist das Volk? fragst du.
Muß man es denn verzärteln, und tut nicht viel mehr für das Volk, wer es
einfach durch die Schönheit und Erhabenheit seiner Werke in die Gemeinschaft
führt und durch seine Lobpreisung verewigt? Gewiß, gewiß. Von was für Völkern
läßt sich in der christlichen Zeit reden? Es sind doch nicht Völker
schlechthin, sondern bekehrte, verwandelte Völker, und um die Bekehrung eben
geht es, nicht um die Treue zu alten Grundvorstellungen. Denken wir an das
Evangelium. Was hat es zu diesem Thema gesagt? Erstens hat es nicht behauptet:
So und so ist es. Es war ein naives, zaghaftes Angebot: Wollt ihr auf neue Art
existieren wie nie zuvor, wollt ihr die Glückseligkeit des Geistes? Und alle
nahmen das Angebot an, waren gefesselt für Jahrtausende.
Wenn das Evangelium verkündet,
im Reiche Gottes gebe es keine Hellenen und keine Judäer, wollte es damit nur
sagen, vor Gott seien alle gleich? Nein, dazu war es nicht vonnöten, das wußten
schon die griechischen Philosophen, die römischen Moralisten, die Propheten des
Alten Testaments. Aber es sagt: In dieser vom Herzen ersonnenen neuen
Daseinsweise und neuen Umgangsart, die sich Reich Gottes nennt, gibt es keine
Völker, sondern nur Persönlichkeiten.
Du hast gesagt, daß ein Fakt
sinnlos ist, wenn man keinen Sinn hineinbringt. Das Christentum, das Mysterium
der Persönlichkeit ist eben das, was man in den Fakt einbringen muß, damit er
für den Menschen Sinn gewinnt.
Und wir sprachen über die
mittelmäßigen Staatsmänner, die dem Leben und der Welt nichts zu sagen haben,
über die zweitrangigen Kräfte, die an Beschränktheit interessiert sind, an
fortwährendem Gerede über ein Volk, ein möglichst kleines, das leiden soll,
damit man darüber richten und es lenken und aus dem Mitleid mit ihm Nutzen
ziehen kann. Das ausdrückliche Opfer solcher Leute ist das Judentum. Ihm hat
das nationale Denken die tödliche Notwendigkeit auferlegt, ein Volk zu sein und
zu bleiben und nur ein Volk, und das im Lauf der Jahrhunderte, in denen eine
Kraft aus seiner Mitte hervorgegangen ist, die die ganze Welt von dieser
erniedrigenden Aufgabe erlöste. Wie erstaunlich! Wie konnte das geschehen?
Solch ein Festtag, die Erlösung von der Teufelei der Mittelmäßigkeit, solch
ein Höhenflug über dem Schwachsinn des Alltags entstand in seinem Land, redete
in seiner Sprache und gehörte zu seinem Stamm. Und die Juden sahen und hörten
es und versäumten es? Wie konnten sie zulassen, daß eine Seele von so
gewaltiger Kraft von ihnen ging, wie konnten sie denken, daß sie nach dem
Triumph und der Herrschaft dieser Kraft zurückbleiben würden als leere Hülle
des Wunders, das sie verworfen hatten? Wem gereichte dieses freiwillige Märtyrertum
zum Vorteil, für wen war es notwendig, daß jahrhundertelang so viele
unschuldige Greise, Frauen und Kinder mit Spott und Blut bedeckt wurden,
Menschen, die so feinsinnig waren und so begabt für das Gute und den herzlichen
Umgang miteinander? Warum sind sie so trag und so unfähig, die schreibenden
Volksfreunde aller Völker? Warum sind die Vordenker des jüdischen Volkes nie
weitergegangen als bis zu den leicht zugänglichen Formen des Weltschmerzes und
der ironisierenden Weisheit? Warum haben sie nicht riskiert, zu explodieren von
der ihnen auferlegten Pflicht, so wie Dampfkessel vom Überdruck platzen, und
warum haben sie es nicht auseinandergehen lassen, dieses kleine Volk, das immer
für irgend etwas kämpfte und für irgend etwas geprügelt wurde? Warum haben sie
den Leuten nicht gesagt: Besinnt euch. Es genügt. Mehr ist nicht nötig. Nennt
euch nicht mehr wie früher. Drängt euch nicht zusammen, verstreut euch. Seid
mit allen. Ihr seid die ersten und die besten Christen der Welt. Ihr seid genau
das, wogegen sich die Schlechtesten und Schwächsten von euch stets gesträubt
haben.«
Am nächsten Tag sagte Shiwago,
als er zum Mittagessen kam:
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